Krahl-Briefe > Jede Resignation ...

Jede Resignation ist schon der Rückfall in die Vorgeschichte

Am 17. Januar 1943 wurde Hans-Jürgen Krahl geboren. Der charismatische SDS-Theoretiker wurde nur 27 Jahre alt.

Uwe Wesel hat die Leserschaft der ZEIT unlängst dringend davor gewarnt, "Konstitution und Klassenkampf", eine Sammlung von Reden und Schriften des 1970 tödlich verunglückten Frankfurter SDS-Genossen Hans-Jürgen Krahl zu studieren. Er meinte es nur gut mit den einzig von seinem eigenen semi-ironischen Jargon nicht überforderten Halbbildungsbürgern und stattete sie deshalb auch gleich noch mit dem handelsüblichen Ressentiment aus: "Lesen Sie das Buch bloß nicht! Viele unverständliche Fremdwörter, komplizierter Satzbau, noch kompliziertere Gedankenführung, aber alles frei formuliert." Es ist ebenso wahrscheinlich wie unerheblich, daß Wesel bei seiner Lektüre über Krahls "Angaben zur Person" und also über die Seite 31 nicht sehr weit hinausgekommen sein dürfte -- so läuft's Business, hätte Franz Beckenbauer im letzten Jahr noch gesagt. Auf alle Fälle machen Maßregelungen von solcher Statur neugierig. Für Gegenwart und Zukunft wieder zu entdecken bleibt nämlich ein radikaler Sozialist, der der neuen Linken einen Ausweg aus dem bunten Einerlei rein symbolischer Gesten, bloß linksbürgerlicher Reformpolitik sowie traditionsblinder Traditionalismen aufzeigen wollte.

Daß dem Individuum keine andere Wahl bleibe als sich einzig durch das Bewußtsein seiner gesellschaftlichen Ohnmacht wie immer beschädigt am Leben zu erhalten -- diese gespenstische Einsicht Adornos sollte und konnte denkende Menschen nicht zufrieden stellen, sondern allenfalls beunruhigen. Als äußerst scharfsinniger Frankfurter Schüler zeigte sich Hans-Jürgen Krahl in gleich mehrfacher Hinsicht von und über Adorno beunruhigt. Die Unversöhnlichkeit einer zu Ende gedachten Ohnmachtserfahrung widersprach erstens all dem, was der zunächst deutschnational eingestellte Bürgersohn aus dem niedersächsischen Sarstedt in seinem politischen Bildungsprozeß vom Ludendorffbund bis zur schlagenden Verbindung über sich hatte ergehen lassen müssen. Folgt man den "Angaben zur Person", die Krahl 1969 als Angeklagter im sogenannten Senghor-Prozeß vor Gericht machen mußte, hätte sich in Gefilden wie diesen nichts anderes breit machen können als die Brutalität eines über die Jahrhunderte hinweg allmählich Mark und Bein übergegangenen Chauvinismus. Wie die Kleinstadthonoratioren etwa unverändert an die Dumm- und Einfachheit der Arbeiter glaubten, so hörte Krahl auch den Gymnasialdirektor vom Faschismus nie anders als nostalgisch reden. Verfinsterte Ausgangsbedingungen wie diese konnten offenbar bereits den Eintritt in die Junge Union als einen Akt von Emanzipation und Aufklärung erscheinen lassen, wie Krahl später einmal mit notgedrungener Selbstironie feststellen sollte.

Beunruhigend an Adorno war auch der Eindruck von der Kraft seiner dialektischer Phantasie und dem durch sie scheinbar mühelos zutage geförderten Befund glatten eigenen Unvermögens. Offenbar hielt er es für die letzte überhaupt mögliche Hoffnung, sich keinerlei Illusionen über das im Grunde hoffnungslose Unterfangen der Kritik hinzugeben. Gerade unter solchen, sich keineswegs unbestechlich wähnenden Augen zerfielen Scheingewißheiten nach Art des liberalen Vernunftbegriffes oder auch des zugerechneten Klassenbewußtseins zu bloßem Staub. Übrig blieb nicht mehr als die ihrer mythologischen Geheimnisse selbst bewußte Enttäuschung über die Totalität des Verblendungszusammenhangs. Bezeichneten nun aber Aporien dieser Art nicht eben jenen Punkt, an dem die "Dialektik der Aufklärung" selbst in Mythos umschlug? Krahl erinnerte in diesem Zusammenhang an den Ausgangspunkt der frühen Kritischen Theorie, der Arbeiterklasse in Anbetracht von Stalinismus, Kulturindustrie und Faschisierung endlich ein Bewußtsein ihrer durch das Kapital und seine Kultur zugerichteten Subjektivität zu ermöglichen. Die in diesem Programm bereits durchscheinende Skepsis hatte sich Ende der zwanziger Jahre noch nicht zum unbeirrbaren Skeptizismus verselbständigt, sondern blieb zumindest ideell noch einer Sozialismuskonzeption verbunden, wie sie in der einen oder anderen Form auch der westliche Marxismus von Lukács über Korsch bis hin zu Wilhelm Reich zu entwickeln versuchte. In dem Band "Konstitution und Klassenkampf" nachgedruckte Seminararbeiten Krahls dokumentieren sowohl seine starke Faszination für diese hegelmarxistische Theorietradition als auch seine Fähigkeit zu ihrer produktiven Weiterführung. Durch sie konnte ein unverdinglichter Emanzipations- und auch Glücksbegriff in Erinnerung gerufen werden, der die gesellschaftliche Befreiung nicht als bloß technischen Fortschritt mißverstand, sondern in der Lage war, dem Marxismus der 2. Internationale seine eigene, allzu mechanische Melodie vorzuspielen. Offenbar waren die gesellschaftlichen Widersprüche doch nicht vollkommen zur Immanenz verurteilt, sondern konnten unter bestimmten Umständen über das Bestehende auch praktisch hinausweisen. So trug die alt gewordene Gestalt der kritischen Theorie also ihre eigene Negation bereits in sich.

Beunruhigt war Krahl deshalb schließlich auch über die demonstrative Weigerung Adornos, aus der Notlage des Einzelnen in der heimelig temperierten Kälte der Gesellschaft andere als schriftstellerische Konsequenzen zu ziehen. War die aufklärerische Dialektik nur mehr eine durch Untröstlichkeit allemal trostspendende Wiedergängerin des Geistes geistloser Zustände und als solche in eine Komplizenschaft mit eben jenen Mächten verwickelt, die zu entmystifizieren sie angetreten war? Beziehungsweise umgekehrt: Wenn es tatsächlich zuverlässige Hindernisse gegen die Vertrustung von Wissen und Macht weniger denn je geben sollte, stellte sich dann nicht selbstreferentiell die Frage nach der Herkunft fortdauernder philosophischer Unbeugsamkeit? Der außerordentlich effiziente Fluch der Gleichschaltung und Bändigung alles der Möglichkeit nach Einzigartigen lastete hier selbst noch auf dem, der ihn doch zu bannen versuchte. "In die Begriffe von Leiden und Unglück, die Adorno entfaltet hat, geht eine Erfahrung davon ein, daß der Faschismus die kritische Subjektivität des Theoretikers selbst beschädigt. Er hat das beschädigte Leben auch auf sich selbst bezogen." Auf diese Weise werde zwar die Verfallsgeschichte des bürgerlichen Individuums reflektiert, nicht aber der Klassenantagonismus und der Strukturwandel, den dieser durch Einbeziehung der wissenschaftlichen Intelligenz in die Klasse der Lohnabhängigen erfahren habe. Eine Theorie wiederum, die gesellschaftliche Praxis als erkenntniskritisch und gesellschaftstheoretisch zentrale Kategorie unterstellte, konnte nach Krahls Überzeugung nur um den Preis eigener Unzulänglichkeit der Frage politischer Organisation ausweichen. Dieses theoretische Argument wurde nicht zuletzt durch ganz praktische Erfahrungen unterstützt. Wie viele andere auch hatte Krahl nämlich im SDS, dem er seit Mitte der sechziger Jahre angehörte, selbst erlebt, daß keineswegs alle Formen politischer Praxis die Ansprüche auf Selbstbestimmung des eigenen Schicksals so verhöhnten und dermaßen rigide sich durchboxten, wie die späte Kritische Theorie es in falscher Selbstgerechtigkeit de facto unterstellte. Vielmehr konnten in diesem sozialistischen Studentenbund bei allen sicher beobachtbaren kleinbürgerlichen Verhaltensweisen Keimformen solidarischer Vergesellschaftung und Persönlichkeitsbildung durchaus schon antizipiert werden.

Während Max Horkheimer mit der antikommunistischen Parole zu sympathisieren begann, in Vietnam werde die Freiheit der westlichen Welt verteidigt und Adornos letztlich uneingestandene Resignation andererseits dazu tendierte, sich dialektisch immer stärker selbst zu bestätigen, war der Kampf der Studentenbewegung gegen Ordinarienuniversität, Notstandsgesetze, Springer-Presse und Vietnamkrieg auch derjenige Hans-Jürgen Krahls. Er trat auf zahlreichen Kundgebungen als Redner auf, stellte sich im Rundfunk und vor anderen großen Auditorien der direkten Auseinandersetzung unter anderem mit Habermas und beteiligte sich 68/69 auch an der spektakulären Besetzung des Instituts für Sozialforschung, die in falscher Folgerichtigkeit mit einer von Adorno angeordneten Räumung durch die Polizei beendet wurde. Innerhalb des SDS wiederum exponierte sich Hans-Jürgen Krahl zusammen mit Rudi Dutschke als Fürsprecher einer antiautoritären Befreiungsperspektive jenseits von kapitalistisch formierter Gesellschaft und, wie letzterer später herausarbeitete, halbasiatisch deformiertem Sozialismus. Dem wider besseres Wissen und gegen alle Erfahrung letztlich noch immer krisengläubigen Ökonomismus führten beide ein unzulängliches Verständnis politischer Subjektivität vor Augen, das die manipulativen Kräfte des "Integralen Etatismus", aber auch die durch ihn gefesselten Bedürfnisstrukturen systematisch verkannte. Das weit und breit einzige Lebenselixier der Produzentendemokratie sei mithin nicht der große Kladderadatsch, sondern die aufgeklärte Selbsttätigkeit der mündigen Massen.

Krahls Begriff der spätkapitalistischen Gesellschaft stellte deren Vermachtung ebenso in Rechnung wie ihre Fähigkeit zur repressiv-toleranten Inkorporation politischer Widersprüche. "Durchaus fraglich ist, ob revolutionäre Theorie noch als Kritik der politischen Ökonomie möglich ist, oder schon, wie Marcuse es unausgesprochen annimmt, als Kritik der politischen Technologie geschrieben werden muß." Die politischen Antagonismen jedenfalls entsprangen der Produktion nicht mehr spontan und naturwüchsig, sondern sehr viel stärker vermittelt als früher. In einem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung, in dem die Repressionsapparate aufgerüstet, Bürgerrechte eingeschränkt und ehedem demokratische Organisationen zu Transmissionsriemen der herrschenden Klasse umfunktioniert wurden, machten sich diejenigen, die wie Habermas kabinettspolitisch auf sozialliberale Oppositionskräfte ihre Hoffnung setzten, selber zu Liquidatoren des radikalen Protestes. Habermas, der den demonstrierenden Studenten auch den infamen Vorwurf des Linksfaschismus gemacht hatte, weil sie mit ihren Aktionen staatliche Repressionen erst provozieren würden, mußte sich denn auch von Krahl darüber belehren lassen, daß es die staatlichen und parastaatlichen Instanzen selbst waren, die die Eskalation der Gewalt bewußt forciert hatten.

Auch Habermas' Kritik eines unreflektierten Traditionalismus in den theoretischen Konzepten des SDS ging ins Leere. Gerade Krahl war weit von der Illusion entfernt, Neuauflagen des Modells historisch gewordener Kaderparteien könnten jene Beständigkeit politischer Arbeit verbürgen, die für die Selbstorganisation der Kopf- und Handarbeiter unverzichtbar ist. Entsprechend scharf ging er nicht nur mit seinen innerverbandlichen Gegenspielern, sondern auch mit den sektiererischen K-Gruppen ins Gericht. "Die kontemplativen Dogmatiker der ML-Gruppen" glichen denjenigen, die Brecht im Verdacht hatte, sie wollten die Revolution nur machen, um den dialektischen Materialismus durchzusetzen. "Der geschlossene Kanon systematischer Sätze und streng disziplinäre Organisation sind Ausdruck eines bildungsgeschichtlichen Strategienersatzes sowie der Bedürfnisse nach Sicherheit und Bindung, die die Entfaltung produktiver revolutionärer Kollektive, emanzipativer Bedürfnisse nach Befreiung sowie revolutionäre Bedürfnisse nach dem stets leistungserzwingenden und risikobeladenen Kampf blockieren." Vor dem Hintergrund eines sich über seine Reichweite vergleichbar stark hinwegtäuschenden Aktionismus erkannte Krahl für den Antiautoritarismus wiederum die dringende Notwendigkeit, endlich ein politisches Realitätsprinzip zu entfalten, "das zu einer disziplinierenden Selbsteinschränkung der antiautoritären Emanzipationsansprüche an die Organisation führen muss". Gleichzeitig sollte sich das Realitätsprinzip des historischen Materialismus dadurch erweisen, daß seine Lehren die Gesellschaft unter dem Aspekt ihrer radikalen Veränderbarkeit beschrieben. Während das Kapital nämlich immer einen Weg aus der Krise fände, müßten die Menschen ihre Geschicke bewußt in die eigenen Hände nehmen, damit es zur gesellschaftlichen Umwälzung kommen kann. Schließlich ist Geschichte machbar.

Malte Meyer