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Dekadenz

Notizen von Hans-Jürgen-Krahl

nach der Handschrift im Verlag Neue Kritik

Editorische Vorbemerkung der Redaktion: Der Hintergrund dieser Arbeit ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unbekannt.
 


Transkription

Dekadenz

Es kennzeichnet die philosophischen Theorien des Spätbürgertums, daß der Begriff, die Kraft zur Kohärenz des alles unter sich befassenden und schlechthin nichts auslassenden Systems nicht mehr aufbringen kann und will, der Begriff wird in sich brüchig, er flieht ins metaphorische und allegoriale Zwielicht des ästhetischen Scheins. [unleserlich] Doch die Risse des Begriffs sind eben jene differentia specifica, in welcher ein Schimmer eben jenes Individuellen aufgeleuchtet, das zu artikulieren sich die systematische Philosophie perennischer und vergangener Jahrhunderte vergebens bemüht hatte.

Doch das Leben, welches sich ästhetisch in dem um seine Ohnmacht wissenden Begriff darstellt, ist so rissig und brüchig wie dieser; das Leben lebt nicht. Nietzsches Philosophieren verdeutlicht, daß nicht nur das Leben des Geistes, welches die große idealistische Philosophie als Inbegriff der Wirklichkeit erkannt zu haben wähnte, ein trügerischer Schein war, sondern daß das unmittelbare Leben selbst zur [unleserlich] erstorbenen Intelligibilität, zur unglücklichen Reflexion ward. Das Leben ist Schein – dies ist die letzte Erkenntnis Nietzsches; dieser Schein ist Rausch und Vernichtung, der dekadente Geist der Musik, der unglückliche Schein, der als Leben sich darstellt, kann bestenfalls momentane Euphorie sein, das schmale Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita.

Die Kritik am reinen Begriff der idealistischen Abstraktion mündete bei Marx in eine Kritik an der Philosophie, welche deren Inbegriff, die Vernunft, durch die revolutionäre Aktion eines historischen Subjekts gesellschaftlich zu verwirklichen forderte. In ein konkretes Medium kann man nur gelangen, wenn man die regulativen Ideen der philosophischen Vernunft verwirklicht, den mundus intelligibilis in den mundus sensibilis aufhebt, den Menschen in der Emanz[ipation] der Sinnl[ichkeit] zum univers[alen] Gattungswesen bildet – die Vermittlung zwischen beidem - dem Allgemeinen und Besonderen - ging mit und nach Kant - Erbschaft der Aufklärung - ins emanzipatorische Vernunftsinteresse der Geschichtsphilosophie ein. Diese artikulierte sich in der [unleserlich] bei Kant unklar gebliebenen Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zunächst im Medium [Ende S.17] der ästhetischen Theorien der Philosophie der Kunst. Der Philosoph der Weltalter Schelling erhebt sie zu [unleserlich] metaphys[ischer] Dignität und der aufklärerisch klassische Schüler Kants Schiller verbindet sie mit dem pädagogischen Interesse der Erziehung des Menschengeschlechts in universalhistorischer Absicht und artikuliert [sie] im Medium der ästhetischen Theorie.

Wie die marxistische Kritik des idealistischen Begriffs sucht auch die bürgerliche nach Hegel in ein konkretes Medium zu gelangen. Doch während Marx die revolutionäre Aufhebung der philosophischen Vernunft proklamiert, deren Verwirklichung aus der materialistischen Kritik der politischen Ökonomie einsehbar wird, kontrastiert das nachhegelsche bürgerliche Denken der philosophierenden Abstraktion unvermittelt und jäh (unbewußt) eine Sphäre begriffsloser Unmittelbarkeit, sei´s Existenz, sei´s Leben, deren Irrationalität sie damit apologetisch festigt.

Doch selbst in diesem Bereich irrationaler Unmittelbarkeit eines bloß scheinbaren, doch keineswegs vernünftigen Lebens, schlägt sich die Sehnsucht nach Freiheit und Glück [in] einer Mediatisierung zur Sensibilität und Intelligibilität nieder; bezeichnenderweise im Medium des Ästhetischen (vgl. Adorno, Kierkegaard)

Das Denken Nietzsches, seine Parole der vita periculosa ist Exempel: Dekadenz ist der spätbürgerliche Versuch, den ästhetischen Versuch der geschichtsphilosophischen Vermittlung zum mundus sensibilis und intelligibilis in ein nicht mehr philosophisches Medium, nämlich das des unmittelbar gelebten Lebens umzusetzen.

Das Resultat dieses unmittelbar erzwungenen Vermittlungsversuchs, ist die existenzielle Ruine des intelligiblen Charakters, dessen Allegorie der dekadente Charakter darstellt (Baudelaire). Das Leben wird an sich selber zum um sich wissenden Schein, der alle Realität aufzulösen scheint - ein Schein, der gleichwohl nicht der wesentliche der reflexiven Vernunft Hegels ist, sondern ein Schein der sich als die daseiende - also unmittelbar in die Existenz getretene - Unwahrheit weiß. Das Leben ist nur Schein, weil das Sein zum Unwahren ward. [Ende S. 18]


Zur Dekadenz

Dekadenz ist der empirische Ort des intelligiblen Charakters, zugleich dessen Leiden, reine Allegorie. (Imperialismus und sein militaristisches Kriegsgeschrei sind [unleserlich] der Dekadenz) Adorno: zu Dekadenz u. Fortschritt: „Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit innewird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet. Dieses imago von Fortschritt ist verschlüsselt in einem Begriff, den heute alle Lager einstimmig diffamieren, dem der Dekadenz.“ [Theodor W. Adorno: Fortschritt, in: Gesammelte Schriften Band 10.2, Frankfurt a. M. 1997, S. 625] [Ende S. 19]


Dekadenz hat einen erkenntnistheoretischen Sinn in der Philosophie, die keine mehr nur [ist] und sich zu verwirklichen trachtet. Sie ist die verhängnisvolle Reflexion, die Vermittlungen aufdeckt und aktionsunfähige Zauderer hervorbringt, romantische Hamlets, jenen von Nietzsche warnend beschworenen Grad von Schläfrigkeit eines Volkes, der schädlich ist (das [unleserlich] Hans Castorps, der [unleserlich] Musik), nur allzu eilfertig umgeschlagen in die existenzielle Denunziation des Begriffs, die antitheoretische Apologie der Spontaneität, incognitive Intuition oder existenzielle Entschlossenheit. Dekadenz ist die um ihre Fragilität wissende Reflexion, nicht nur der seiner Unmittelbarkeit entfremdete Schein des Wesens, sondern der als Wesen sich wissende Schein, der seine Wesentlichkeit und Substanzialität als spätbürgerlich, als idealistischen Trug durchschaut, die aufklärerische Funktion des Spätbürgertums ist nicht ohne positivistischen Einschlag: Seine Dekadenz besteht nicht zuletzt darin (der kriminalistische Einschlag), daß er aufdeckt und ausspricht, was das Bürgertum bislang unter dem ideologischen Deckmantel der Moral verschleierte.

Das Pathos der Aufklärung (darin über den Positivismus hinausgehend, der nicht weiß, daß er nur das offenbare Bekenntnis zum Mythos ist) besteht im immoralistischen Bekenntnis zum Grauen, Leiden, das der dekadente Charakter gleichwohl nicht verträgt. Die Dekadenz ist die Negation des Fortschritts, welche ihn [in] ihrer Negativität postuliert, die konzentrierte Empfindlichkeit, die das Grauen der Alltagspraxis demonstriert, in das die Konformen eingewöhnt wurden. Dekadenz ist extreme Individuation.

Der allegorische Charakter der Dekadenz, die wie Baudelaire - so Benjamin - die Leiche auch von innen sieht. [Ende S. 20]

Dekadenz

Dekadenz ist die empirische Entäußerung des intelligiblen Charakters, dessen gesellschaftliche Leiche; ihr ästhetischer Ausdruck ist die nach außen gelenkte inwendige Allegorie, die physisch unmittelbar gewordene Psyche der Leiche, [unleserlich] - das hat Benjamin gefunden – Baudelaire zum ersten Mal poetisch artikuliert hat. [Ende S. 21]


Quelle: Mappe 15 b (Ästhetik), Seiten 17-21, Verlag Neue Kritik
Transkription: Hans-Jürgen-Krahl-Institut