Krahl-Briefe > Was ist Klassenbewusstsein?
Was ist Klassenbewusstsein?Exzerpt von Hans-Jürgen-Krahlnach der Handschrift (auf Digger) Editorische Vorbemerkung der Redaktion: Diese Art von Exerpten gehören die meisten von Krahl hinterlassenen und bis heute unveröffentlichten Texte an. Die genaueren Umstände von Krahls der Arbeit an "Was ist Klassenbewustsein" sind zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unbekannt. Wie bei allen Transkriptionen ist die Redaktion für Korrekturen der Transkription dankbar. Transkription [Hans-Jürgen Krahl,] [Über] Wilhelm Reich, Was ist Klassenbewusstsein [Seite 1]
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Auszug aus: Wilhelm Reich, Was ist Klassenbewusstsein, 1934, S. 11-15. (Hervorhebungen im Original) [11] So falsch die Anschauung ist, dass die unterdrückte Klasse ohne Führung, [12] aus einem spontan entstehenden revolutionären Willen heraus die Revolution zum Sieg führen kann, so falsch ist auch die ihr entgegengesetzte, dass es nur auf die Führung ankomme, die das Klassenbewusstsein erst zu schaffen hätte. Das könnte ihr, wenn es nicht irgendwie angelegt, spontan doch in Bildung begriffen wäre, nie gelingen. Wenn also eine bestimmte psychische Situation in der Masse mit dem hohen Bewusstsein der revolutionären Führung erst zusammenklingen muss, damit die subjektive Vorbedingung für die soziale Revolution geschaffen werde, ist die Beantwortung der Frage „Was ist Klassenbewusstsein?“ um so notwendiger. Sollte hier jemand einwenden, die Frage sei überflüssig, denn man habe immer betont, man müsse an die „kleinen Tagesnöte“ anknüpfen, so fragen wir: Heißt es „Klassenbewusstsein entwickeln“, wenn man in einem Betrieb für Einrichtung von Ventilatoren eintritt? Wie aber, wenn der NSBO-Betriebsrat das ebenfalls tut, vielleicht sogar als besserer Redner? Hat er dann die Belegschaft für sich gewonnen? Gewiss! Wo liegt der Unterschied zwischen der sozialistischen und der faschistischen Vertretung der „kleinen Interessen“ zwischen unserer Freiheitsparole und der Parole „Kraft durch Freude“? Ist dasselbe gemeint, wenn man vom Klassenbewustsein des proletarischen Lehrlings oder wenn man von dem des proletarischen Jugendführers spricht? Es heißt, dass das Bewusstsein der Massen auf die Höhe des revolutionären Klassenbewusstsein gehoben werden müsste; versteht man darunter das hoch entwickelte Wissen um den geschichtlichen Prozess, den der Führer der Revolution haben muss, dann rennt man einer Utopie nach. Niemals kann es im Kapitalismus gelingen, die breite Masse, die den Aufstand und die Revolution durchzuführen hat, mit diesem hochspezifizierten Wissen zu erfüllen, durch keinerlei Mittel der Propaganda. Dass man in Wahlversammlungen entweder nur Parolen hinausrief oder aber, wie es oft im Sportpalast geschah, einen Funktionär stundenlang gelehrt über die Finanzpolitik der Bourgeoisie oder die amerikanisch-japanischen Gegensätze sprechen ließ, erstickte jedes Mal die anfängliche Spannung und Begeisterung, bedeutete, in der Masse Interesse und Voraussetzungen für die Aufnahme objektiver Wirtschaftsanalysen annehmen, erschlug das mit Recht so genannte Klassenempfinden der Tausende Zuhörer. Die bisherige marxistisch-revolutionäre Politik setzte ein Klassenbewusstsein im Proletariat als fertig vorhanden voraus, ohne es detaillieren, konkretisieren zu können. Sie legte ihr eigenes, sehr oft auch falsches Wissen um den soziologischen Prozess in das Bewusstsein der unterdrückten Klasse hinein, was kürzlich treffend als „subjektiver Idealismus“ bezeichnet wurde. Dennoch spürte man in jeder kommunistischen Versammlung das „Klassenbewusstsein“ der Masse unzweideutig und konnte die Atmosphäre von der in jeder anderen politischen Organisation klar unterscheiden. Es muss also so etwas wie ein Klassenbewusstsein in der breiten Masse geben, das sich von dem der re[13]volutionären Führung grundsätzlich unterscheidet. Es gäbe somit konkret zweierlei Klassenbewusstsein: das der revolutionären Führung und das der Masse; beide müssen zusammenklingen. Die Führung hat keine dringendere Aufgabe, neben der genauen Kenntnis des objektiven historischen Prozesses, als die, zu verstehen: a. was die verschiedenen Schichten, Berufe, Altersstufen, Geschlechter an vorwärtstreibenden Wünschen, Ideen, Gedanken in sich tragen; b. das sie an derartigen Wünschen, Ängsten, Gedanken und Ideen in sich tragen, die das Vorwärtstreibende an der Entfaltung verhindert („traditionelle Bindungen“). Das Klassenbewusstsein der Masse ist nicht fertig formuliert, wie die KP-Führung glaubte, fehlt auch nicht völlig und ist auch anders strukturiert, wie die SP-Führung meinte; es ist vielmehr in konkreten Elementen vorhanden, die an sich noch nicht Klassenbewusstsein sind (etwa bloßer Hunger), es aber wohl in ihrer Zusammenfassung ergeben könnten; diese Elemente sind auch nicht rein vorhanden, sondern durchsetzt, vermischt, durchwoben mit gegenteiligen psychischen Kräften und Inhalten. Ein Hitler kann nur so lange mit seiner Formel, dass die Masse kindlich suggestiv sei und nur wiedergebe, was man in sie hineintrichtert, recht behalten, solange die revolutionäre Partei ihre wichtigste Aufgabe nicht erfüllt, das Klassenbewusstsein aus seiner gegebenen Form herauszuarbeiten, zu klären, weiterzutreiben. Und davon war in Deutschland keine Rede. Der Inhalt des Klassenbewusstseins des revolutionären Führers ist nicht persönlicher Art; sofern persönliche Interessen (persönlicher Ehrgeiz, u.ä.) mitvorhanden sind, wirken sie hemmend auf seine Tätigkeit. Dagegen ist das Klassenbewusstsein in den breiten Massen (wir sprechen nicht von der verschwindenden Minderheit der bewusst eindeutig revolutionären Arbeiter) durchaus und durchwegs persönlicher Art. Jenes ist erfüllt vom Wissen um die Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems, um die ungeheuren Möglichkeiten der sozialistischen Planwirtschaft, um die Notwendigkeit der sozialen Revolution als der Angleichung der Aneignungsform an die Produktionsform, um die vorwärts- oder rückwärtstreibenden Kräfte der Geschichte. Das zweite ist von solchem Wissen weit entfernt, ebenso von großen Perspektiven, da geht es um kleines und kleinstes, alltägliches, banales. Das Erste erfasst den objektiven, historischen, sozial-ökonomischen Prozess, die äußeren Bedingungen, wirtschaftlicher sowohl wie gesellschaftlicher Art, denen die Gesellschaft bildenden Menschen unterworfen sind; dieser Prozess muss begriffen werden, ihn muss man in die Hand bekommen und meistern, wenn man aus seinem Sklaven zu seinem Herrn werden will. Man muss also etwa Planwirtschaft einrichten, um die tödlichen Krisen auszurotten und erst die Grundlage des Lebens aller Arbeitenden schaffen. Dazu ist unter anderem eine genaue Kenntnis etwa der japanisch-ameri[14]kanischen Gegensätze unbedingt notwendig. Das zweite jedoch ist an den russisch-japanischen oder englisch-amerikanischen Gegensätzen gänzlich uninteressiert, ebenso am Fortschritt der Produktivkräfte; es orientiert sich einzig und allein an den subjektiven Spiegelungen, Verankerungen, Auswirkungen dieses objektiven Geschehens in millionenfach verschiedenen kleinsten Alltagsfragen; sein Inhalt also ist das Interesse an Nahrung, Kleidung, Mode, familiären Beziehungen, den Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung im engsten Sinne, an den sexuellen Spielen und Vergnügungen im weiteren Sinne, wie Kino, Theater, Schaubuden, Rummelparks und Tanz, ferner an den Schwierigkeiten der Kindererziehung, an Hausschmuck, an Länge und Gestalt der Freizeit etc. Das Sein der Menschen und seine Bedingungen spiegeln, verankern, reproduzieren sich in ihrer seelischen Struktur, indem sie sie formen. Nur durch diese seelische Struktur hindurch ist der objektive Prozess für uns erreichbar, seine Hemmung wie seine Förderung und Beherrschung. Nur durch den Kopf des Menschen, durch seinen Willen zur Arbeit und sein Sehnen nach Lebensglück, kurz seine psychische Existenz schaffen wir, konsumieren wir, verändern wir die Welt. Das haben die zu Ökonomisten entarteten „Marxisten“ längst vergessen. Die umfassende, historisch mit großen Perspektiven operierende Wirtschafts- und Staatspolitik, muss, wenn sie also eine marxistische sein will, den Anschluss an das kleine, banale, primitive Alltagsleben und Wünschen, der breitesten Masse in allen ihren Verschiedenheiten nach Land und Schichte finden. Nur auf diese Weise kann es gelingen, den objektiven soziologischen Prozess mit dem subjektiven Bewusstsein der Menschen in eins fließen zu lassen, den Widerspruch und die Kluft zwischen ihnen zu vernichten; kurz gerade den Werktätigen, die Kultur fundieren und Reichtum schaffen, das Bewusstsein ihrer Anspruchsrechte zu vermitteln, sie erst einmal wissen zu lassen, welche Stufe die Kulturbildung „oben“ bereits erreicht hat und wie sie selbst leben, wie bescheiden sie sind und daraus noch eine Tugend machen, die sie manchmal sogar revolutionär nennen. Gelingt dieser Zusammenschluss, dann und nur dann treten wir aus den philosophischen innerparteilichen Debatten über Avantgarde und Taktik, in die lebendige Taktik der strömenden Massenbewegung gegenüber, in die lebensverbundende politische Tätigkeit. Die Behauptung ist nicht zu gewagt, dass sich die Arbeiterbewegung eine unendliche Reihe von Sektierertum, Eigenbrödlerei, Scholastik, Fraktionsbildungen und Spaltungen erspart, dass sie den dornigen Weg zum Selbstverständlichsten, zum Sozialismus, abgekürzt hätte, wenn sie ihre Propaganda und Taktik und Politik nicht nur aus Büchern, sondern in erster Linie aus dem Leben der Massen geschöpft hätte. Heute ist es so, dass z.B. die durchschnittliche Jugend in manchen Fragen viel [15] weiter ist als ihre „Führer“, dass man mit diesen erst „taktisch“ über Dinge wie das Geschlechtsleben reden muss, die der Jugend selbstverständlich sind. Es sollte umgekehrt sein, der Führer müsste die Verkörperung des Klassenbewusstseins erster Art sein und das zweite herausbilden. |