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Das Kapital ist die Seele des MenschenKarl Marx und der KapitalismusVon Walter Gerd NeumannFast jede Marxinterpretation seit der deutschen Sozialdemokratie und Lenin hat den Mangel positivistisch zu sein, weil niemand verstanden hat, dass Marx die Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie unter dem Aspekt ihrer Aufhebbarkeit begreift. Nach Marx sollen also Gebrauchswert, Tauschwert, Ware, Geldform, Wert, Mehrwert, konkrete und abstrakte Arbeit, Arbeit, Mehrarbeit, Akkumulation, Zirkulation des Kapitals und das Kapital selbst in einer menschenwürdigen oder kommunistischen Gesellschaft, also von Marx unter dem Aspekt einer utopischen Gesellschaft gesehen, verschwinden, aufgehoben werden. Auch der Anarchismus lobt in der Gestalt des Anarchomarxismus an Marx nur die Kategorie des Klassenkampfs, obwohl dieser Begriff bei Marx nur im "Kommunistischen Manifest" vorkommt (und heute, in den hochindustrialisierten Ländern des Endkapitalismus, der sog. Ersten Welt, längst obsolet geworden ist),(1) und Marx als hervorragenden Ökonomen, anstatt zu begreifen, dass Marx kein Ökonom war, sondern gerade ein Kritiker der politischen Ökonomie. Trotzdem gibt es eine früher nicht beachtete Nähe von Karl Marx zum Anarchismus: Ohne die "Notwendigkeit der Aufhebung der Arbeit" (Marx) und die Abschaffung des Geldes (siehe Marx´ Kritik an den Stundenzettlern in den "Grundrissen"; auch Hans Jäger, "Die Bibel der Anarchie") ist der Kapitalismus, und d.h. die gesamte politische Ökonomie, heute weltweit nicht mehr abzuschaffen. Die bürgerliche Gesellschaft, d.h. die Gesetze der politischen Ökonomie, ist heute dermaßen zur ersten Natur geworden, dass nur noch ihre Grundlagen aufgehoben werden können. Der Gebrauchswert, an sich eine bloße Idee des Produkts gesellschaftlicher Arbeit, muss nach Marx gegenständlich werde, d.h. er muss zum Gebrauchsgegenstand werden, damit der Tauschwert aufhört zu existieren. Er muss es tagtäglich ebenso, um konsumierbar zu sein. Gebrauchswert und Tauschwert als solche sind nicht konsumierbar. Die Praxis der Konsumtion und einer menschlichen Gesellschaft ist unabdingbar an die Gegenständlichkeit der Produkte menschlicher Arbeit gebunden. Wenn Marx schreibt: "Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie dem Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch diese quid pro quo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich-übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge ... Die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, (hat) mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt" (Kapital I, S. 86) dann sagt er über diesen Warenfetischismus dasselbe wie Sigmund Freud, wenn dieser schreibt: "Die Pathologie lehrt uns eine große Anzahl von Zuständen, in denen die Abgrenzung des Ichs gegen die Außenwelt unsicher wird, oder die Grenzen wirklich unrichtig gezogen werden; Fälle, in denen uns Teile des eigenen Körpers, Stücke des eigenen Seelenlebens, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, wie fremd und dem Ich nicht zugehörig erscheinen, andere, in denen man der Außenwelt zuschiebt, was offenbar im Ich entstanden ist und von ihm anerkannt werden sollte" (Freud, IX, S. 199). Die Warenform ist demnach eine Projektion im Freudschen Sinne, also eine bloße Vorstellung, die mit ihren Voraussetzungen, Gebrauchswert und Tauschwert, ihren sinnlich-übersinnlichen, bewusst-unbewussten Charakter verliert, und verschwindet. Die Warenform existiert dann nicht mehr. Auch die konkrete oder individuelle Arbeit muss gegenständlich werden. Im revolutionstheoretischen Sinne wird sie das nicht nur im Produkt, das durch ihren gleichzeitigen Charakter als "abstrakte Arbeit" Warenform annimmt, sondern in der vollautomatisierten Maschinerie. Die sog. abstrakte Arbeit, nach Marx ewige Naturbedingung (2) in menschlichen Gesellschaften, hebt sich dadurch als Denken (s. auch W. N., Nichts lehrt Denken, Frankfurt/M 1989) in der Maschinerie auf. Wenn die Arbeit aber einmal in das Spiel an vollautomatisierter, computergesteuerter Maschinerie übergangen ist, dann bleibt nur noch die schöpferische Arbeit von Künstlern, Handwerkern und Intellektuellen (wie z. B. auch Ärzten), und die restliche Arbeit, das "bloße Tun" (G. Anders) kann so verteilt werden, dass jeder arbeitswillige- und fähige Mensch nur noch sage 4 Stunden/Tag arbeiten/etwas tun muss. Die konkrete, individuelle Arbeit als Selbstbefriedigung muss zur für-sich-und-für-andere befriedigenden gesellschaftlichen Arbeit werden. "Das Kapital soll nach Marx nichts anderes sein als unbewusstes Bewusstsein" (H.J. Krahl, Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik, in: O. Negt (Hrsg.), Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, S. 148), d.h. die Produktivkräfte schaffen das bedürftige Es (im Freudschen Sinn), und das "Geld heckende Geld" (Marx), also die Arbeit für Geld, die Mehrarbeit oder Lohnarbeit das moralische Über-Ich (während der schon vor dem Kapital vorhandene Staat das "Ich" schafft - tatsächlich gibt es ja die schizophrene Spaltung von Es und Über-Ich innerhalb des unbewussten Bewusstseins des Menschen (was religiös "Seele" heißt) erst seit der Moderne, also seit Beginn des modernen Kapitalismus, oder, anders gesagt, seit der Spaltung des Produkts menschlicher Arbeit in Gebrauchswert und Tauschwert bzw. der Arbeit in konkrete und abstrakte Arbeit. Gegenständlichwerden des Kapitals heißt hier dann nur, dass das unbewusste Kapital bewusst wird, um es schließlich aufheben zu können. Das hat Marx offensichtlich unter dem revolutionären Emanzipationsprozess des "Proletariats" verstanden. Der Wert ist nach Marx’ These nirgendwo zu haben. Nach Krahl ist er nur in einer "indirekt materialistischen Lehre vom Ding" zu erfassen. Der Wert aber ist, wie ich gezeigt habe (in: Marx, Freud, 1996), eine moralische Instanz: das Glück der Liebe (3), während der Mehrwert nach Marx ein "Unglück für die Arbeitenden" (durch die Mehrarbeit) ist, ähnlich dem "unglücklichen Bewusstsein" Hegels (Phänomenologie des Geistes, Berlin-Ost, S. 154-158). Wenn der Wert aber die Liebe ist, muss er nach Marx Praxisgebot (siehe die 11. Feuerbachthese) praktisch und eben wie alles wieder gegenständlich werden: zum Lieben. Das bloße Gefühl muss dem tätigen Lieben oder der Leidenschaft weichen. Wenn der Wert Repression ist, wie Krahl schreibt, dann unterdrückt die Liebe die sexuellen Bedürfnisse von Mann und Frau, Junge und Mädchen, so wie die Arbeit nach Freud "Triebverzicht" ist. Die (christliche) Liebe ist das Gefühl, gearbeitet zu haben. Das ist das marxsche "Wertkristall", das sonst Mystik wäre. Das Wertgesetz ist das Gesetz der Lebens- und Liebesverhältnisse, die nach Marx letztinstanzlich das Bestimmende von Religion, Politik und Ökonomie sind. Der Materialismus muss sich praktisch verändern oder aufgehoben werde, damit der Idealismus verschwindet. Deshalb gilt der historische und dialektische Materialismus in einer neuen, menschlichen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus "nicht mehr als die richtige Interpretationsform der Dinge" (Alfred Schmidt, Nachwort zu: Max Horkheimer, Kritische Theorie der Gesellschaft, S. 358). Wenn es die Widersprüche, Antagonismen und Antinomien der bürgerlich-kapitalistisch-patriarchalischen Gesellschaft nicht mehr gibt, dann gibt es auch keinen Idealismus und Materialismus mehr, sondern nur noch die Praxis. Es gibt auch keine Dialektik mehr, die ohne jene nicht existiert, ohne dass es einen Rückfall in den Positivismus gäbe. Vielmehr müssten die Menschen nach einem Adornowort "positivistischer sein als der Positivismus". Es ist die Utopie von Karl Marx, dass die Arbeiterklasse mit der Bourgeoisie sich selbst aufhebt, d. h. dass die Arbeitenden nicht mehr Arbeitende sind, obwohl das "Reich der Freiheit" (Marx) immer auf dem Boden des "Reichs der Notwendigkeit" aufbaut. Nicht das Proletariat, sondern die Konsumenten sind heute das revolutionäre Subjekt. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass nach Marx Ausbeutung, die drei Bände des "Kapital" zusammen gefasst, heißt, dass die Menschen die Produkte ihrer eigenen gesellschaftlichen Arbeit für Geld kaufen müssen. So lange es Geld gibt, gibt es auch Verdinglichung (4), also die Darstellung des Werts, unserer Gefühle, im Geld. Und so lange es Verdinglichung gibt, gibt es auch Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Frauenunterdrückung, Homophobie, Antikommunismus usw. Wenn das Geld, dieses "Ding an sich" Kants, diese "Geißel der Menschheit" (Jaeger) abgeschafft ist, kann sich jeder Mensch nehmen, was er/sie/es braucht, wobei die Räte als einzige verbliebene politische Instanz auf Betriebs-, Dorf-, Stadtteil-, Stadt- und Regions- bzw. Länderebene über Produktion, Verteilung und Konsumtion der Gebrauchsgegenstände entscheiden. ANMERKUNGEN:
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