Krahl-Briefe > Neumann, Krahl
Hans-Jürgen Krahl. Eine BiographieVon Walter Gerd NeumannPersönliche Biographie Hans-Jürgen Krahl wurde am 17.01.1943 in Sarstedt bei Hannover geboren. Noch im Kinderwagen traf ihn bei einem Bombenangriff während des zweiten Weltkriegs ein Granatsplitter im linken Auge. Der linksorientierte Schriftsteller Gerhard Zwerenz sollte deshalb in seinem 1973 bei Rowohlt erschienenen Roman "Kopf und Bauch" Krahl als den einäugigen Revolutionär verewigen. Wie Krahl selbst erzählte (Angaben zur Person, in: KuK [siehe Siglen am Ende des Textes], S. 19 ff), entstammte er nicht nur der bürgerlichen Klasse, sondern kommt "aus einem unterentwickelten Land ..., und zwar aus dem finstersten Teilen dieses Landes" (ebenda). Es herrschte (zu seiner Zeit) "noch zum starken Teil das, was man als Ideologie der Erde bezeichnen kann", so daß er selbst sich "zunächst nicht anders als im Bezugsrahmen der Deutschen Partei bis zur Welfenpartei bewegen" konnte: "Ich konnte mir nicht einmal die Ideologien erarbeiten, die Liberalität und Parlamentarismus bedeuten" (ebenda). Da sein Bildungsprozeß im Ludendorffbund begann, konnte Krahl sich "begriffliches Denken nicht anders als aus der Mystik Meister Eckhards und Roswitha von Gandersheims erfahren" (ebenda). 1961 gründete Krahl in seiner Heimatstadt Alfeld, wo er das Gymnasium besuchte, die Junge Union und trat der CDU bei. Kurz danach erfuhr Krahl in der christlichen Kirche vom Widerstand gegen den Faschismus im Sinne der Innerlichkeitsideologie Dietrich Bonnhöfers. Zu Beginn seines Studiums war Krahl das Mitglied einer schlagenden Verbindung, aus der er schließlich herausgeworfen wurde, weil er einen antiautoritären Aufstand gegen einen der sog. alten Herren gewagt hatte. Am Beginn seines Studiums stand Martin Heidegger auf dem Lehrplan, bevor Krahl zum logischen Positivismus und danach zu marxistischen Dialektik überging. Schließlich wurde er Mitglied im Frankfurter SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund), was Krahl als gründlichen Verrat an seiner eigenen Klasse bewertete. Aus diesem Grunde wurde er von seinen erzkonservativen Eltern, insbesondere dem Vater, enterbt und verstoßen, woran auch seine Schwestern ihren Anteil hatten, obwohl die später als Krahl verstorbene Mutter sich in seinem Grab, und nicht das des Vaters legen ließ. Auf diesem Grab auf dem Ricklinger Stadtfriedhof in Hannover steht deshalb bis heute kein Grabstein. Krahl war am 13.02.1970 bei einem Autounfall auf einer Fahrt von Frankfurt nach, so viel ich weiß, Osnabrück, zusammen mit Genossen, bei vereister Fahrbahn in einer Ente tödlich verunglückt. Seine Werke (siehe die Siglen) sind bis auf einen Aufsatz (BV) posthume erschienen. Die sog. Finnlandausgabe von KuK ist leider nicht mehr auffindbar. Ein Text zu Martin Heidegger befindet sich unveröffentlicht in den Händen von U. Riechmann und dem Verlag Neue Kritik. Krahl, der in Frankfurt anfangs Schwierigkeiten hatte, zu reden, bzw. seine Gedanken in Worte und Sätze zu fassen, und deshalb zuerst verspottet wurde, war Alkoholiker. Er konnte entweder nur nüchtern oder bei einem bestimmten Alkoholpegel schreiben und reden. Außerdem hatte er keine eigene Wohnung, kein Geld für Essen und Trinken und trug auch nur abgetragene Kleidung am Leib. Sprichwörtlich war seine Begabung, sich in die Probleme anderer Diskutierender denkend einzufühlen, sowie er auch die Fähigkeit hatte, sagen zu können, "wo es lang geht". Außerdem ist bemerkenswert sein phänomenales Gedächtnis, sich die Seitenzahlen von Textstellen aus Büchern merken zu können. So war er auf die Ähnlichkeit seines Namens Krahl mit dem "Gral" stolz, und wenn es einen falsch traf, so war es der späte Tomatenwurf einer feministischen Genossin auf einer DK des SDS. Krahl war nämlich kein Macho, obwohl es unter den Frauen des Frankfurter SDS der größte Erfolg war, einmal mit ihm - und sei es auch nur auf dem Klo - Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, so wie die Hierarchie im Frankfurter SDS aussah. Krahl selbst verhielt sich schon eher bisexuell, das heißt er konnte auch einen Mann in den Arm nehmen. Wenn Gretchen Dutschke, die Frau von Rudi Dutschke, in ihrer Biographie von ihrem Mann meint, daß Krahl ihr und ihrem Mann als Narzißt erschien, mag das richtig sein. Andererseits machte ihn sein Glasauge, das Krahl gern herausnahm, um es anderen zu zeigen, abstoßend. Nun war Krahl der führende Kopf des Frankfurter SDS, wenn nicht "der" Theoretiker der Studentenbewegung der 60er Jahre, weshalb sich jener nach seinem Tod auch auflöste. Seine Schulungen mit J. Wieszt (S. EdB) und D. Claussen und B. Leineweber (siehe die Schulungsprotokolle in KuK und EAA) waren schon zu seinen Lebzeiten berühmt. Seine rhetorischen Auseinandersetzungen mit seinem Erzfeind Jürgen Habermas, die Besetzung des Instituts für Sozialforschung, bei der Th. W. Adorno, sein Doktorvater, die Polizei rief, spektakulär. Von der Frankfurter Emanzipationsdebatte, an der Krahl maßgeblich mitbeteiligt war, ist leider nach meinem Wissen nichts Schriftliches überliefert. Später wurde die sog. Krahl-Schulung von seinen beiden o. g. Schülern fortgesetzt, der auch der Autor angehörte. Das Bonmot, die Deutsche Bank zu sprengen, um den Kapitalkreislauf zu unterbrechen, stammt auch von Krahl. Eine spätere Empfehlung von ihm war es, als die anti-autoritäre Studentenbewegung sich in dogmatischen Gruppen, die das sog. Proletariat zum neuen Zentrum ihrer Politik machten, aufzulösen begann, der ML beizutreten. Krahl ist praktisch zweimal gestorben: Eines physischen Todes bzw. an den Folgen eines Unfalls, und in der Wissenschaftsgeschichte der BRD. Einerseits wird Krahl als Mythos gehandelt, wobei mancher nicht weiß, ob es den Krahl überhaupt gegeben hat, andererseits wird er von der herrschenden Wissenschaft totgeschwiegen. Krahl in einer wissenschaftlichen Arbeit zu zitieren, gilt insofern als Sakrileg, und ist für den, der eine wissenschaftliche Laufbahn anstrebt, möglichst untauglich. Selbst die Vorworte und Einleitungen der Herausgeber seiner Werke (s. Siglen) haben ihn schon je in ihrem Sinne interpretiert und für sich vereinnahmt, insbesondere, was den Sinn seines Oeuvres angeht. Statt daß die richtige Theorie über die Politik und das richtige Leben entscheidet, was Krahl mit Lenins Anspruch verbindet, wurde er allzusehr als politischer Denker interpretiert, der er so nicht war. Auch daran, daß Krahl nicht nur die letztgültige Gestalt Marxscher Theorie entwickelt hat, ja Marx' Theorie überhaupt erst konstituiert und theoriefähig gemacht hat, und Marx' Theorie auch in Ansätzen widerlegt und radikal weiterentwickelt hat, davon ist bei den meisten der o. g. nicht die Rede. So wird das "Bild" von Krahl nachträglich verzerrt, auch dadurch, daß ein Schüler von Krahl wie D. Claussen nur die Schrift KuK, aber sonst keine weitere von Krahl zu kennen vorgibt, und Nachfolger, wie den Autor, der voll ausgearbeitet hat, was bei jenem nur Programm ist: eine psychoanalytisch angeleitete Kritik der politischen Ökonomie, ignoriert. An Krahl kann sich auch heute noch jeder, der sich für einen Wissenschaftler hält, erst recht jemand, der sich Links und Anarchist schimpft, nicht nur die Zähne ausbeißen, sondern messen lassen. Nicht zuletzt deshalb wird er akademischerseits nicht anerkannt. Der ganze wissenschaftliche Apparat würde sonst auffliegen, und die heute sog. real existierende Linke, soweit es sie noch gibt (meist nur noch ihre Medien), müßte sich in den Hintern beißen, was ihre Ideologien anbelangt. Und den Nachfolgern kritischer Theorie sei gesagt, daß diese erst mit Krahl endet bzw. mit Krahl fortgesetzt werden kann, wie es der Autor selbst versucht hat. So wie Freud meinte, daß alle Menschen seine Patienten seien, was ihr Unbewußtes anbelangt, so kann gesagt werden, daß alle Menschen Schüler von Krahl sind, was ihr gesellschaftliches Leben anbelangt. Krahl, der Gesellschaftsphilosoph, wie er auch genannt wird, ist nicht tot, sondern lebendiger denn je, auch wenn manches an seiner Theorie veraltet sein mag. Was daran aktuell ist, sollen die folgenden Zeilen zeigen. Wissenschaftliche Biographie Der direkte Lehrer von Krahl war Th. W. Adorno, diese "Schädelstätte des absoluten Geistes", wie ihn O. Negt einmal genannt hat, der Kopf der kritischen Theorie der sog. Frankfurter Schule nach dem 2. Weltkrieg. Nichtsdestotrotz hat Krahl Adorno in einem in der Frankfurter Rundschau zu dessen Tod im September 1969 gewidmeten Nachruf der Ahistorizität bezichtigt. Für Krahl, wie auch für andere Theoretiker des SDS, waren die Hegelsche Philosophie, die Marxsche Theorie usw. "nur" Lehren, die wesenslogisch reflektiert und notfalls widerlegt gehörten, zumindest waren sie keine Anweisung auf eine gesellschaftsverändernde Praxis. Für letztere war Krahl tatsächlich ein "geistiger Rädelsführer", auch wenn die Köpfe des SDS seiner Zeit die bürgerliche Vorstellung des "Rädelsführers" für sich ablehnten. Krahls eigene Theorie, die hier in Ansätzen vorgestellt werden soll, ist durchdrungen von Geschichtsbewußtsein und der Fähigkeit zur Synthese, der er eine anti-autoritäre, und damit historisch neue Praxis, entgegenzusetzen versuchte. Deshalb beklagte Krahl auch den "bürgerlichen Zerfallsprozeß der anti-autoritären Bewegung" (KuK), der am Anfang der 70er Jahre mit der Gründung von angeblich linken Parteien, dem Rückzug vieler GenossInnen ins Privatleben oder in selbst gewählte Projekte wie Landkommunen, sowie der Entstehung der theoriefeindlichen Spontibewegung, was den Verlust an Spontaneität begann, Identität, Realität und Organisation letzterer bedeutete. Reflexion war für Krahl, auch wenn er sie (s. u.) der Verdinglichung gleichsetzte, für revolutionäre Theorie und Praxis unverzichtbar. Der Abstraktions-grad, zu dem es Krahl selbst dabei brachte, macht deutlich, daß nur "Gehirn-akrobaten" (Th. W. Adorno), die in Distanz zur Gesellschaft stehen, diese auch richtig begreifen können, was nach Krahl eine unabdingbare Voraussetzung für ihre Veränderung ist. Das gilt auch erst recht heute, wo sich die gesellschaftlichen Verhältnisse noch mehr verselbständigt haben, und niemand von den o. g. Linken mehr in der Lage ist, zu diskutieren bzw. wissenschaftlich zu argumentieren. Von den letzten Arbeiten des Autors abgesehen ist das, was Krahl produziert hat, deshalb die letzte Gestalt Marxscher oder kritischer Theorie. Das Dreieck Kant, Hegel, Marx war auch schon für die kritische Theorie der sog. Frankfurter Schule maßgebend, verschob sich jedoch mit Krahl mehr auf die kritische Rezeption bzw., positivistisch gesehen, die Verifikation und Falsifikation letzterer, was eigenes (Selbst-)Denken und ein hohes Abstraktionsvermögen, und das heißt: Triebverzicht verlangte. In AuS ist das ebenso stets zu spüren wie in EdB, nicht zuletzt, weil hier die kritische Philosophie von Kant rezipiert wird. In allen Krahlschen Schriften ist Weiterdenken "bis zum Abgrund", das heißt wo der freie Fall beginnt, work in progress, das heißt Krahl an der Arbeit, wobei Arbeit hier nicht nur die "Arbeit des Begriffs" ist, wie sie O. Negt favorisiert, sondern ein Spiel mit Abstraktionen, Philosophismen, Phänomenen usw., die Krahl - und das macht seine Unvergleichbarkeit selbst in der Philosophiegeschichte aus, auf den Punkt (den Begriff, den Satz) zu bringen fähig ist. Krahl muß man/frau zwar lesen, wie Detlev Claussen in seinem Nachwort zur letzten Ausgabe von KuK meint, aber jenes macht das Lesen nicht einfach. Deshalb ist es auch nicht möglich, Krahls Theorie in Thesen zusammenzufassen, obwohl das folgende den Anschein haben mag. Eine Annäherung wäre es schon, das, was Krahl schreibt, als Wahrheit anzunehmen, so daß dem Lesenden nur die Aufgabe zukäme, es weiterzuentwickeln, wie es in den letzten Schriften des Autors der Fall ist. Nur unter einem noch radikaleren Aspekt ist es begreifbar, auch wenn der ganze Marx dabei, wie es sich bei Krahl schon andeutet, vor die Hunde ginge, und dann Hegel recht behielte, wie Krahl vermutet (EdB., S. 7). Die kritische Reflexion von Kant und Hegel soll gleichwohl oder auch deshalb nicht Thema dieser Broschüre sein. Auch von Marx soll dabei weniger die Rede sein - von der Ideologie und Herrschaftswissenschaft des Marxismus ganz zu schweigen. Worum es dem Autor geht, sind die genialen Sätze der Krahlschen Theorie selbst, das heißt das, was über den Stand der durch den Tod von Krahl abgebrochenen Diskussion der 70er Jahre hinausweist. "Durch die Eiswüste der Abstraktion muß hindurch, wer bündig philosophieren will" (Th. W. Adorno); gleichwohl meint Krahl mit Hegel, daß "Abstraktion in der Wirklichkeit geltend machen (heißt), Wirklichkeit (zu) zerstören" (KuK, S. 31). Einen Weg zurück gibt es nach Krahl nicht, denn das, was "einmal unter das Allgemeine gefaßt ward, (ist) unwiederholbar" wie ein anderer Schüler von Adorno, K. H. Haag, meinte (Philosophischer Idealismus, S. 16). Wenn die gesellschaftliche Realität abstrakt strukturiert ist, kann niemand daran vorbei, abstrakt zu denken, und Weisheit wäre es, das Gesagte zu konkretisieren und damit praktisch aufzuheben. Das ist die theoretische Intention Krahls, der Sinn und Zweck seiner Theorie: daß die sinnlose Arbeit aufgehoben wird und die Philosophie sich verweltlicht. Die Abschaffung der Arbeit aber bedarf der Arbeit und die Welt der richtigen Philosophie. Alles andere wäre ideologisches Tun. Die Theorie oder die Organisation sprachlich vermittelter Praxis Versuche, die Marxsche Theorie mit Freuds Psychoanalyse zu verbinden, haben in der kritischen Theorie Tradition, wenn sie auch meist formal blieben oder, weil sie an der Kategorie vom Bedürfnis angesetzt hatten, gescheitert sind. Th. W. Adorno und H. Marcuse sind einer solchen Verknüpfung dadurch näher gekommen, als sie, jeder für sich, Nietzsches psychologische Kritik oder die Hegelsche Philosophie dafür herangezogen hatten. Mit Krahl wird diese Sache inhaltlich, insofern er die empirischen Tatsachen einer solchen Verwandtschaft klassischer, kritischer Theorien thematisiert. In einer seiner frühesten Schriften, einem Seminarvortrag (Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse, KuK, S. 31) zieht Krahl die Marxsche Theorie und die Freudsche Psychoanalyse zusammen: "Die Psychoanalyse lehrt, zu Phänomenen pathologischer Zustände gehöre konstitutiv der Mechanismus von Projektion, zumal die vom Subjekt auf die Außenwelt, wie sie sich gesellschaftlich im Warenfetischismus vollzieht: 'Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie dem Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihm existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dieses quid pro quo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich-übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge ... Die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeits-produkte, worin sie sich darstellt, (hat) mit ihrer physischen Natur und der daraus entspringenden dinglichen Beziehung absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt' (Das Kapital I, S. 86) ... ,Die Pathologie lehrt uns eine große Anzahl von Zuständen, in der die Abgrenzung des Ichs gegen die Außenwelt unsicher wird oder die Grenzen wirklich unrichtig gezogen werden; Fälle, in denen uns Teile des eigenen Körpers, Stücke des eigenen Seelenlebens, Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, wie fremd und dem Ich nicht zugehörig erscheinen, andere, in denen man der Außenwelt zuschiebt, was offenbar im Ich entstanden ist und von ihm anerkannt werden sollte' (S. Freud, Studienausgabe IX., S. 199)" (KuK, S. 49). Krahl denunziert damit zum ersten Mal die Kategorie der Ware, die nach Lenin reines Sein, das heißt Bewußtsein überhaupt, im Sinne Hegels sein sollte (W. I. Lenin, Hefte zu Hegels Dialektik, München 1969, S. 91 ff.), als bloße (projizierte) Vorstellung, d. h. er bezichtigt sie einer imaginären oder illusionären Existenz, die das sog. natürliche Bewußtsein (im Sinne Hegels) nachhaltig bestimme. Nicht zuletzt eskamontiert Krahl damit die ökonomistischen Interpretationen der Marxschen Theorie, wie sie in der Geschichte des Marxismus häufig sind und im Verfallsprozeß der Studenten-bewegung Urständ feiern sollten. Erkenntnis im traditionellen Sinn wird damit als Projektion erkannt, und Wissenschaft als positivistisch oder Scheinwissenschaft. Nicht zuletzt deshalb plädierte Krahl persönlich in Seminaren für Erkenntniskritik, die mit dem antiautoritären Protest an den Universitäten eng verbunden war. Diese wesenslogische Reflexion der Kategorie der Ware hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf den Emanzipationsprozeß bzw. die Bildung dessen, was seit Lukács in der Geschichte des Marxismus Klassenbewußtsein heißt. In den "Thesen zum allgemeinen Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewußtsein" (KuK, S. 330 ff.) erläutert Krahl, daß sich "die Kategorie des Klassenbewußtseins (...) aus einem bestimmten Verhältnis von Theorie und Empirie (konstituiert), wie es gebunden ist an den materialistischen Produktionsbegriff von Arbeit und Arbeitsteilung. Der Begriff von Empirie, wie ihn im Rahmen des historischen Materialismus Marx und Engels in der Deutschen Ideologie angedeutet haben, ist keineswegs identisch mit dem Empiriebegriff der positivistisch zerstreuten Einzelwissenschaften. Dieser ist quantitativ und formal nach Maßgabe naturwissenschaftlicher Operabilität, jener ist qualitativ und material nach Maßgabe konkreter Arbeit, das heißt der materialistische Empiriebegriff ist gebunden an Gebrauchswerte, Bedürfnisse und Interessen. Der Theorienbegriff der Kritik der politischen Ökonomie ist gebunden an abstrakte Arbeit, die Kategorien der Ware, des Mehrwerts und der Akkumulation. Aus der Kritik an diesen Kategorien erschließt sich die Gesellschaft als eine Herrschaftstotalität von Verdinglichung, Ausbeutung und Krise. Wenn sich Klassenbewußtsein als parteiliches Totalitätsbewußtsein wirklich bilden können soll, muß sich das Moment der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, durch welche Umwandlung und Vermittlung auch immer, in das Bewußtsein der Massen umsetzen und in ihre Erfahrung eingehen." (KuK, S. 336.) Das heißt das Klassenbewußtsein bildet sich nach Krahl aus dem Hegelschen Ineinanderübergehen von Sein und Nichts, Geist und Materie, Schein und sich reflektierendem Schein (dem Wesen), wie sie sich an den verdinglichten Vorstellungen, das heißt den projizierten Begriffen, festmachen. Wenn der Schein sich an den vermittelten Dingen nur aus Gründen der Operabilität festmacht, wie Krahl meint, dann wäre er leicht zu durchschauen, auch wenn er dann als erste Natur (als natürlich oder normal) erscheint. Deshalb problematisiert Krahl auch mit A. Gehlen, dessen Behauptung, die zweite Natur (der Gesellschaft) habe sich zur unaufhebbaren Faktizität erster Natur verfestigt, so daß die Gesellschaft nicht mehr "veränderbar" (KuK, S. 81) sei, sondern wie Kapital und Staat nur noch absterben könne. Für Adorno war schon die Gesellschaft als solche mit Herrschaft synonym, so daß eine menschliche Gesellschaft nur die, wenn auch konservativ besetzte, Gestalt von Gemeinschaft haben könne, oder, wie Marx dachte, eine Assoziation freier Menschen sein kann, was sowohl die Befreiung des Individuums von innerem Zwang, als auch die Befreiung der Gesellschaft von äußerem Zwang verlangt. Davon, daß Klassenbewußtsein im Lukácschen Sinne Movens, wenn auch eine Bedingung von Gesellschaftsveränderung wäre, wäre also abzusehen. Vielmehr ginge es ab ovum um eine Veränderung des Bewußtseins, um ein Bewußtsein, das nicht mehr durch Projektion allein die Dinge erkennt, womit die ganze kapitalistische Gesellschaft zur Disposition stünde, und nicht nur, wie bei Marx noch, die heutige. Das System als solches wird radikal in Frage gestellt und nicht nur seine Auswirkungen, wie es Sozialdemokratie, kommunistische Parteien oder Gewerk-schaften anstreben. Das heißt auch, daß die ganze Vergangenheit bzw. die Kultur der bürgerlich-kapitalistisch-patriarchalischen Gesellschaft in Frage steht, um einen gesellschaftlichen Neuanfang zu setzen. Geist ist nach Th. W. Adorno die Projektion gesellschaftlicher Arbeit; Aufklärung ist ihr Medium. Nach idealistisch-kritisch philosophischer Tradition kann ich allein durch Reflexion die Dinge erkennen. Nun ist nach Krahls Erkenntnis Reflexion = Verdinglichung. D. h. wenn ich eine Sache (einen materiellen oder ideellen Gegenstand, einen Menschen) reflektiere, projiziere ich meine Vorstellung auf diese und reduziere sie auf einen bloßen Begriff, weshalb die Sache selbst zu einem bloßen Ding wird. Marx spricht deshalb in bezug auf Hegel auch davon, daß bei diesem die Welt in abstrakten Begriffen ersaufen würde. Die Theorie der Verdinglichung stammt indes von Lukács, der sie von Hegel übernommen hat, wo Vergegenständlichung = Verdinglichung sein soll, was Marx nach Krahl rückgängig macht, indem er sagt, daß Vergegenständlichung nicht immer schon gleich Verdinglichung sei, was nur eine Tatsache der Entfremdung ist. Krahl hat diese Theorie der Verdinglichung weiter ausgearbeitet und zu Ende gedacht: Wenn Krahl davon spricht, daß der Wert nur "durch eine indirekte materialistische Lehre vom Ding" (KuK, S. 37) faßbar sei, dann sagt er nicht mehr und nicht weniger, als daß der Marxsche Begriff des Werts das ist, was nach Freuds Psychoanalyse Gefühl oder Gefühlskomplex heißt (was eine Über-Ich-Kategorie ist), und wenn Verdinglichung nach Krahls Marx-Interpretation die Selbstdarstellung des Werts im Geld ist, dann heißt Verdinglichung, daß sich unsere Gefühle im Geld darstellen. Tatsächlich betrachten wir die Lebensmittel, die wir konsumieren, unter dem Aspekt des Geldes, und auch die Begriffe (verdinglichte Vorstellungen), mit denen wir uns verständigen, sind Geld-vermittelt (ebenso betrachtet ein Mann eine Frau und vice versa unter dem Aspekt der Ware und des Geldes, wenn sie geschlechtlich miteinander verkehren wollen), denn das Geld ist das Ding an sich, das nach Kant aller unserer Erfahrung vorgängig sein soll, und in den "Tiefen unserer menschlichen Seele" wohnt. Wenn, wie Krahl erläutert, die Warenform den Tatbestand der Projektion ausmacht (s. o.), dann die Geldform den der Introjektion, d. h. der Verinnerlichung. Die Liebe ist dann ebenso wie die bürgerliche Gesellschaft ein (je innerer und äußerer) Zwangszusammenhang von Projektion und Verinnerlichung, Liebe und Geld an sich selbst Übertragungsphänomene (die erstere die Ideologie des letzteren). Die Verdopplung der Ware in Ware und Geld ist ein Übertragungsphänomen. Das trifft die Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Individuen an der Wurzel ihrer Existenz und Daseins/Überlebensweise sowie jede bürgerliche Philosophie und Wissenschaft. In der Konsequenz müßte sich die Praxis des Denkens, Sprechens und Handelns des Menschen bzw. der Gesellschaft verändern, damit die Fetischismen und Mystifikationen, die Entfrem-dungen und Verdinglichungen verschwinden. Mit der Abschaffung der herrschenden Institutionen oder ihrer Umfunktionierung wäre es also nicht getan. Eine weitere große Entdeckung resp. Erkenntnis von Krahl ist es, daß das Kapital nach Marx "nicht mehr sein soll als unbewußtes Bewußtsein" (BV, S. 148). Wenn Mann/Frau sich klar macht, daß Klassenbewußtsein (s. o.) ein Resultat der Abarbeitung vom unbewußten Über-Ich- und Es-Anteilen darstellt, d. h. das, was Hume, Hegel und Freud gleichermaßen "innere Erfahrung" nennen, wird auch klar, daß es aus revolutionstheoretischen und -praktischen Gründen nicht nur eine Besitzergreifung der Produktionsmittel (als eines Teils des Kapitals) und eine mögliche Umverteilung des Geldes (als einen anderen Teil) geben kann, also eine bloße (neue) Herrschaft über die Sachenwelt, sondern daß die Revolution auch im Bewußtsein des Menschen heute stattfinden muß, d. h. daß dieser sein unbewußtes Bewußtsein hinwegarbeitet und damit bewußt macht - um es praktisch aufzuheben, was ein prinzipiell endloser Vorgang ist. Die neue Gesellschaft und der neue Mensch sind demnach nicht als etwas Stationäres, Endgültiges vorstellbar, sondern nur in einer Entwicklung denkbar. Wenn Krahl davon spricht, daß die Krise, die den Kapitalismus ins Leben rief, von demselben Charakter war, wie die, die ihm ein Ende bereiten wird, dann rechnet er mit einem epochalen Einschnitt, d. h. mit einem Bruch in der quantitativen Kontinuität der gesellschaftlichen Entwicklung, wie sie sich auch die ehemalige italienische Gruppe "Il Manifesto" vorstellte. Daß diese Revolution nicht automatisch oder notwendigerweise vor sich gehen könnte, hat Krahl (in: Thesen, s. o.) dazu verleitet, von der "wissenschaftliche Intelligenz als dem kollektiven Theoretiker des Proletariats" (ebenda, S. 345) zu sprechen, was der Sinn ihrer (auch, wie hämisch behauptet wurde: Krahls) Praxis sei. Damit ist zwar keine Diktatur der Intelligenz über das Proletariat gemeint, aber deren Hegemonie im Sinne Gramscis. Angesichts, wie Krahl sagt, hochverschleierter und -verdinglichter Herrschaftsverhältnisse, wie heute, im Endkapitalismus, braucht die Gesellschaft, um sich zu verändern, über sich und jene aufgeklärte Menschen, die wie Krahl selbst sagen können, wo es langt geht, und was zu tun ist, das Kapital und den Staat, Arbeit und Geld, die Warenform des Produkts und des Menschen als Ware Arbeitskraft, die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Familie als Form der Reproduktion des Lebens und die sachliche, verdinglichte Hochsprache abzuschaffen, was nach Krahl Sinn und Zweck der Marxschen Theorie ist, die sich und die Gegenstände ihrer Analyse unter dem Aspekt ihrer Aufhebbarkeit begreift. Wenn die Gesellschaft und ihre Formen nur noch absterben können, erhebt sich die Frage, was denn das Medium sei, das, mit welcher Mäeutik (Hebammenkunst) auch immer, eine neue Welt entstehen könnte. Da einerseits jegliche Gewalt ausgeschlossen ist, weil zumindest der Barrikadenkampf und das Attentat auf den Müllhaufen der Geschichte gehören, und ein Generalstreik ein entsprechendes massenhaftes Klassenbewußtsein voraussetzt, das sich erst noch bilden müßte, andererseits die traditionellen Formen der Arbeiterbewegung, wie der Kampf von Gewerkschaften und Sozialdemokratie, sozialistischen und kommunistische Parteien und Organisationen ebenso überholt sind, bleibt nur die sprachliche Verständigung, die nach Krahl allein imstande ist, die Ideologien, wie sie die gesellschaftliche Arbeitsteilung produziert, zu durchschauen. Krahl sagt dazu: "Marx zufolge ist Sprache praktisches Bewusstsein; sie ist aus Arbeitsteilung entstanden, das praktische Bewusstsein der geteilten Arbeit. Aus der Marxschen Theorie geht aber nicht hervor, wieso Marx imstande war, die Arbeitsteilung seiner eigenen Gesellschaft zu durchschauen, wenn auch sein Bewusssein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt war. Wenn in Sprache und Bewusstsein keine Momente enthalten sind, die gewissermassen über die Bestimmung des Bewusstseins durch das gesellschaftliche Sein hinausgehen, wie kann man dann die Gesellschaft kritisch erkennen? Was ist aber dieses Moment, das über die Bestimmung des Bewusstseins durch das gesellschaftliche Sein hinausgeht und wodurch wird es konstituiert? Marx hat eine objektive Antwort darauf: Die Konkurrenz, sagt er, isoliert die Proletarier nicht nur voreinander, sondern bringt sie auch zusammen, bringt sie in den Verkehr miteinander, und dieses Zusammenbringen bedeutet die Fähigkeit zur Synthesis (Vgl. Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 61 Fussn.). Das ist eine objektive Interpretation, aber sie erklärt eines nicht: Die Kritik der politischen Ökonomie beansprucht als revolutionäre Theorie, die Bedingungen einer Veränderung der Gesellschaft aufzuzeigen. Um diese aufzuzeigen, muß sie zunächst einmal die Bedingungen beschreiben, die die Bildung von Klassen-bewusstsein verhindern: das falsche Bewusstsein. So mündet das Warenkapitel konsequent in das Fetischkapitel, wo falsche Bewusstseinsformen aufgezeigt werden. Die Kritik der politischen Ökonomie konnte hinreichend die Bestimmung des Bewusstseins aus dem gesellschaftlichen Sein erklären, aber Marxens Postulat ist es ja, dass die Menschen Geschichte mit Bewusstsein machen, d. h. das Verhältnis von Sein und Bewusstsein sich umkehrt. Dass die Kritik der politischen Ökonomie als revolutionäre Theorie der Herrschaftsentschleierung und der gesellschaftlichen Dynamik unvermittelt ist zur Theorie des historischen Materialismus als der Theorie und Geschichte der Klassenkämpfe, rührt einerseits daher, dass für Marx die Revolution eine immer schon vorgefundene und vom Proletariat nicht machbare, sondern nur transformierbare Tatsache ist. Nachdem die Revolution nach 1871 ausblieb, hat Marx so gut wie kein revolutionstheoretisch relevantes Wort mehr gesagt. Die Kritik des Gothaer Programms geht auf die Konstruktion der künftigen Gesellschaft ein, aber sagt nicht, wie die Revolution zustandekommt. Wenn man andererseits davon ausgeht, dass Produktion als Prinzip von Geschichte Arbeit und Arbeitsteilung ist und dass gleichwohl alle Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist - ich trenne jetzt absichtlich analytisch, obwohl die analytische Trennung Ideologie ist, aber sie ist eine Marxsche, und es geht um die Bedingungen einer Theorie der Revolution -, so ist es logisch nicht möglich, diese Produktion und das Bewusstsein von Produktion zu den Klassenkämpfen zu vermitteln. Hier geht eine Lücke in die Marxsche Konstruktion der Geschichte ein, und ich glaube sie bezeichnen zu können mit »Sprache«. Familie, Sprache und Arbeitsteilung sind meiner Meinung nach die Prinzipien, die in der Geschichte als Geschichte zur Entfaltung kommen. Ich bin auch der Meinung - und das haben z. B. Horckheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung gesehen -, dass Sprache zwar aus Arbeitsteilung entsteht, aber nicht blosse Widerspiegelung der Arbeitsteilung sein kann, weil sonst nicht erklärbar ist, wie man die Gesellschaft richtig erkennen kann. Marx muss nicht nur die Bedingungen angeben, unter denen das Bewusstsein vom gesellschaftlichen Sein bestimmt wird, denn ein vom gesellschaftlichen Sein bestimmtes Bewusstsein ist ja falsches Bewusstsein; er muss auch die Bedingungen angeben, wie man mit Bewusstsein das gesellschaftliche Sein bestimmt. Das ist nötig für die Bildung von Klassenbewusstsein. Ich sage nicht, Sprache tritt gleichwertig als Prinzip neben den Begriff der Produktion; aber ich meine, dass in dem Augenblick, wo Warenproduktion, Tauschverkehr und Geld sich entwickeln, Sprache ein Moment enthält, das über die Bestimmung des Bewusstseins durch das gesellschaftliche Sein hinausgeht. Sprache wäre damit konstitutiv für einen Typus von Arbeitsteilung, und zwar für jenen, der durch abstrakte, warenproduzierende Arbeit gekennzeichnet ist. In primitiven Gesellschaften dagegen sind Arbeitsteilung und Sprachverhalten durch den familiären Verband menschlichen Verhaltens bestimmt. Das ändert sich, wo Tauschverhältnisse die Bestimmung menschlichen Verhaltens durch den familiären Verband zurückdrängen. Wenn rationale Tauschbeziehungen die Individuen in Kommunikation über Arbeitsteilung und Tauschwerte drängen, Sprache durch Arbeitsteilung bestimmt wird, dann sind sprachliche Beziehungen, die Wissenschaft hervortreiben, genetische Bedingungen von Klassenbewusstsein. Diese hat Marx aber nicht systematisch als Bedingungen für Klassenbewusstsein angegeben. Die Determination von Bewusstsein an der Basis ist in der Sprache als Ideologie angelegt. Wissenschaftliche Erkenntnis verläuft aber anders. Wenn Sprache in diesem Sinne ignoriert würde, wäre erstens nicht einzusehen, wie die Sprache Marxens jene Verbindung durchschneiden kann. Wenn zweitens die Sprache an Arbeitsteilung einseitig gebunden sein sollte, dann könnte es aufgrund der Klassenbedingungen des Proletariats keine proletarische Organisation geben. Drittens kann die kategoriale Struktur der Wirklichkeit nicht nach der Beziehung von Basis und Überbau begriffen werden, es sei denn, man verfällt der »Weltanschauung«, Abbildtheorie oder Ontologie. Sprache dient der Konstitution von Bewusstseinsformen. Sie ist auch Prinzip von Gesellschaft - als Produkt des Bewusstseins ist sie unterschieden von abstrakter Arbeit." (KuK, S. 386/7, Anm. 2).[1] Aus dieser Perspektive diskutiert Krahl den bei Marx offensichtlich zu kurz gekommenen Aspekt dieser Emanzipationskraft der Arbeit, die im Marxismus ebenso ontologisiert wurde wie z. B. im Faschismus (Nationalsozialismus). Von daher entwickelt Krahl - und das durchzieht alle seine Schriften - den schon in der kritischen Theorie angelegten Aspekt einer anarchistischen Interpretation der Marxschen Theorie, die sich an Marx' Denken selbst fest macht, und das Marxsche Werk mehr oder weniger ad acta legt, bzw. als empirisches Material behandelt. Für Krahl ist der Marxismus an sich selbst ein absoluter Idealismus geworden, was erstens in der Marxschen Theorie, d. h. im historischen und dialektischen Materialismus angelegt war, und zweitens durch die illusionäre Konzeption eines Proletariats als geschichtlichem Subjekt (was Hegelsche Geschichtsmetaphysik sei) verifizierbar sei. Für Krahl ergibt sich dieses Theorem aus der erkenntniskritischen Reflexion der Marxschen Theorie, die er sowohl der immanenten Kritik durch die Hegelsche Philosophie, aber auch der eher äußerlichen der Freudschen Psychoanalyse unterzieht. Wenn, d. i. der kritische Punkt, die Marxsche Utopie nur eine Idee ist, ist es mit dem Marxismus Essig, weil erstens sich niemand für eine bloße Idee engagiert (es sei denn, er/sie verfällt dem Aberglauben) und zweitens Ideen nur mit Gewalt durchgesetzt bzw. verwirklicht werden können, was den wahrscheinlichen Untergang der Menschheit bedeuten würde. Insofern ist die Marxsche kritische Theorie nur als praktischer Idealismus fortsetzbar, wie ihn der Neoidealist und Intimfeind von Krahl, Jürgen Habermas abstrakt proklamiert, was zu kritisieren wäre. Der Feindschaft entspricht aber auch eine bestimmte Nähe, ebenso wie ein Adorno mehr von Heidegger gelernt hat, als er in seiner Kritik an diesem zuzugeben bereit gewesen wäre. Organisation der Philosophie Was Krahl an Kant (insbesondere SuA) sowie Hegel (insbesondere in EdB) wesenslogisch reflektiert, sind Meisterwerke philosophierender Abstraktion und Konkretion zugleich. Aus dem jeweiligen Selbstverständnis einer Philosophie extrahiert Krahl deren Relevanz für die Theorie und Praxis einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft und des Menschen, ohne daß er (wissenssoziologisch) relativistisch, biographisch (personalistisch) oder hermeneutisch (interpretierend) argumentieren würde. Vielmehr geht Krahl, darin seinem Lehrer Th. W. Adorno verbunden, über den Immanenzzusammenhang einer Philosophie oder Wissenschaft, und sei es auch die kritische Marxens und anderer VertreterInnen des kritischen Marxismus (wobei ihm die links-hegelianische oder -marxistische westliche Tradition am wesentlichsten erscheint; er jeglichen Dogmatismus in der Theorie also ablehnt) hinaus. D. h. wer Kant oder Hegel bzw. Marx verstehen will, der kommt nicht umhin, die Schriften von Krahl zu studieren. Was Krahl dadurch gleichzeitig gelingt, ist die Aufhebung der Philosophie und ihrer abstrakten Bestimmungen, wie sie heute noch für die bürgerlichen Wissenschaften paradigmatisch sind, ohne daß diese das reflektieren würden oder wollten, was ein Mangel an Selbstreflexion darstellt. Krahl selbst kommt darin übrigens nicht vor, so daß jede Aussage über seine Person hinter dem Gehalt der Sätze, die Krahl formuliert hat, zurückstehen müssen. Sozialpsychologisch ist Krahls Theorie nicht zu widerlegen, ganz im Gegensatz zu den nach der Studentenbewegung sich ausbreitenden Ideologien der sog. real existierenden Linken und ihrer Medien, auf die sie sich reduziert hat, heute. Das Skandalon ist es, daß die herrschende Philosophie und Wissenschaft davon nichts wissen will und Krahl ignoriert, obwohl sie in Krahl den größten Denker der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hätte. Ebenso ergeht es auch dem Autor als Krahl-Nachfolger, dem eine Hochschullehrerlaufbahn ebenso versagt blieb und die Anerkennung seiner schriftstellerischen Beiträge von über fünfzig veröffentlichten Büchern, wobei die Arroganz der akademischen Linken ihr Weiteres hat. Marx oder kritische Theorie sind nicht lehrbar, oder, wo es doch versucht wird, geraten sie leicht ins positivistische Fahrwasser, von dem die Lehrpläne, nicht nur der deutschen Hochschulen, voll sind. So wie ein Habermas (siehe sein Vorwort zu "Erkenntnis und Interesse"), und seine Schüler die Reflexion ablehnen, so die Reste der akademischen Linken die Selbstveränderung, das heißt die Praxis. Allein Erkenntniskritik, wie sie Krahl, an Kant und Hegel bzw. Marx geschult, propagiert und praktiziert hat, könnte ihnen ihre Wirklichkeit erschließen und einen Sinn vermitteln, statt nur die autistischen StudentInnen von heute zu beklagen. Krahl lebt! Anmerkung
Siglen der Schriften von Hans Jürgen Krahl BV: Bemerkungen zum Verhältnis von Kapital und Hegelscher Wesenslogik, in: Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, (Hrsg.) O. Negt, Frankfurt/Main 1970; KuK: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution, (Hrsg.) D. Claussen, B. Leineweber, R. Loewy, O. Negt, U. Riechmann, Frankfurt/Main 1971; SuA: Sinnlichkeit und Abstraktion. Prolegomena zu einer materialistischen Empirie, (Hrsg.) H. Brinkmann, Wiesbaden 1973; GuKh: Geschichte und Klassenbewußtsein heute (1). Eine Diskussion von 1969 (mit) F. Cerutti, D. Claussen, H.-J. Krahl, O. Negt, A. Schmidt, Frankfurt/Main 1977 EdB: Erfahrung des Bewußtseins. Kommentare zu Hegels Einleitung der Phänomenologie des Geistes und Exkurse zur materialistischen Erkenntnistheorie, (Hrsg.) C. Hegemann, H. Kocyba, H.-B. Schlumm, L. Wolfstetter, Frankfurt/Main 1979 EAA: Vom Ende der abstrakten Arbeit. Die Aufhebung der sinnlosen Arbeit ist in der Transzendentalität des Kapitals angelegt und in der Verweltlichung der Philosophie begründet, (Hrsg.) W. Neumann, Frankfurt/Main 1984. |