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Walter Gerd Neumann: Der moderne Mensch: ein Schizo?

Eine psychoanalytisch angeleitete Kritik der politischen Ökonomie
Von Walter Gerd Neumann

Th. W. Adorno meint irgendwo, dass an der Psychoanalyse nichts richtiger sei als ihre Übertreibungen. Nach S. Freud sind alle Menschen seine Patienten. Sollten also Psychose, Neurose und Schizophrenie nicht nur seelische Krankheiten, sondern Dispositionen des (modernen) Menschen sein?

Nach H. J. Krahl teilt sich das Ich erst seit der Moderne, der beginnenden bürgerlichen Gesellschaft bzw. des aufkommenden Kapitalismus, in den Widerspruch von Es und Über-Ich. Beide hat es zwar auch schon früher, in vorkapitalistischen Gesellschaften, gegeben, aber wirklich, d. h. konkret, werden sie erst jetzt. Die Ware teilt sich nach K. Marx bekanntlich erst mit der bürgerlichen Produktionsweise in den Widerspruch von Gebrauchswert und Tauschwert, Idee und Begriff des Produkts. Ebenso konkrete und abstrakte Arbeit. Alle philosophischen Dualismen bis I. Kant und darüber hinaus zehren von diesem Widerspruch. Der Widerspruch von Geist und Natur, von Psyche und Physis tritt erst mit der Moderne auf. Ihr Opfer und Protagonist zugleich ist der arbeitende Mensch, der Produktionsagent und Produktionsmaschine zugleich ist. G. Deleuze und F. Guattari (Anti-Ödipus) haben Recht, wenn sie den modernen Menschen als Schizo beschreiben. Sexuelle Bedürfnisse und Moral (die durch das Geld heckende Geld oder die Arbeit für Geld hervorgerufenen Über-Ich-Anteile) bedeuten für diesen Menschen einen Widerspruch. Insbesondere die Frau, hervorgerufen durch die Frauenbewegung und zwei Weltkriege, ist für die kleinbürgerliche Gesellschaft von heute als die den Maßstab abgebende, dominierende Persönlichkeit schizophren, wenn sie zwischen sexueller Aufmachung und dem Glauben an Liebe, Ehe und Familie gespalten (so wie es das Bewusstsein der Prostituierten ist), verdoppelt erscheint.

Zusammengehalten wird dieser schizophrene Typus Mensch nach G.W.F. Hegel durch den Staat, der als das Absolute an die Stelle Gottes getreten ist. Dieser Staat aber ist in der Moderne (traditionell Gott) das vermittelnde Ich, das er in der Moderne gleichwohl erst schafft. Es ist das Kapital, das nach Krahls Marx-Interpretation nichts weiter sein soll als unbewusstes Bewusstsein, eine den Widerspruch aufhebende Einheit. Die bürgerliche Gesellschaft ist ein Zwangszusammenhang von Projektion und Verinnerlichung (also von Liebe und Geld). Solange es Gott (Liebe) und Staat (Geld) gibt, bzw. ein realitätsfähiges Ich, ist der Schizo nicht klinisch krank. Wenn aber die Idee Gott oder der Staat bzw. das Kapital schwindet (das Kapital in die Krise gerät), wenn die demokratische Regierungsform sich auflöst, schwindet das Ich, und der Widerspruch tritt umso krasser hervor. Dagegen hilft nur, an die Stelle des bürgerlichen Ichs (Ego) ein alternatives Ich zu setzen, das sich aus dem Es (dem Gebrauchswert, der Natur usw.) entwickeln könnte. Also eine alternative Produktionsweise, die die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus überwindet, sowie die Dualismen in einer nicht-idealistischen, nicht ans Absolute orientierten Einheit, aufhebt. Der Schizo, das Schicksal des modernen Menschen, stirbt mit der Abschaffung des Produktionsagenten, d. h. des arbeitenden Menschen. Dass die Produktivkräfte das Es schaffen ist bekannt. Ebenso der Ausspruch Freuds, dass aus Es Ich werden soll. Das ist aber nicht mehr unhinterfragt hinzunehmen, weil auch Destruktivkräfte das Es mitschaffen können. In dem Maße also, wie die industrielle Arbeit computergesteuert vollautomatisiert wird, so dass jeder arbeitsfähige und –willige Mensch nur noch 4 Stunden/Tag etwas tun muss, müssen die Destruktivkräfte abgeschafft werden. Dazu gehören Waffen, AKWs, harte Drogen usw. Eine neue linke Politik müsste also auf beides hinarbeiten, um eine Produktions- und Verkehrsform zu "erarbeiten", die den Menschen zum Menschen werden lässt. Das aber ist nicht anders möglich als durch praktische Aufklärung.

Literaturangaben:
W.N., Der Kommentar I-III, Hannover 97/98
Ders., Marx, Freud, Hannover 96
Ders., Kritizismus, Bremen 01
oder Anares-Bücher