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Überbau -- BasisFragment von Hans-Jürgen Krahlnach der Handschrift, veröffentlicht im "Digger-Journal" Editorische Vorbemerkung: Dieses Fragment, das von Helmut Reinicke und Hermann Koczyba im Digger-Journal in Manuskriptform im Internet veröffentlicht wurde, nimmt einige Gedanken aus den Notizen Krahls zu Henri Lefèbvre auf, die in Konstitution und Klassenkampf abgedruckt sind (Ausgabe 2008: S. 121-124). Diese Anmerkungen, die sich nach dem knappen Kommentar im Buch auf die "Metaphilosophie" Lefèvbres aus dem Jahr 1965 beziehen, wurden demnach 1966 geschrieben. Es ist anzunehmen, dass dies auch für die folgenden Notizen gilt. Die Redaktion der Krahl-Briefe würde sich über etwaige Korrekturen und Ergänzungen auf Grundlage des im Internet publizierten Originals freuen. Überbau -- Basis Aussagen über das Verhältnis von Basis und Überbau überhaupt gelten im Historischen Materialism[us] zu Recht als analytische Urteile, die ebenso richtig wie zuletzt tautologisch sind und die der Marxismus als eine spezifiziert historisch inhaltliche Theorie vermeiden muss (dazu Korsch). Pauschal zu konstatieren jene bestimme diesen oder es herrsche Wechselwirkung zwischen beiden (K[ritik] an Engels, (bei Korsch)) verallgemeinert unzulässig die nur in der inhaltlich bestimmten Einzelanalyse jeweils en detail zu ermittelnden Differenz zwischen beiden und trachtet ihr Verhältnis in eine Aussage neuszientivischer Gesetzeskraft zu übersetzen. Doch die Naturgesetze der gesellschaft[lichen] in der kapitalistischen Wirtschaftsweise historisch gewordenen Verhältnisse sind qualitativ anderer Art als die von den Naturwissenschaften speziell der Physik ermittelten, wiewohl beide, auch die der ersten Natur, im praktischen Reproduktionsprozess gründen. Doch die von formaler Logik nicht wahrgenommene Abhängigkeit analytischer [unleserlich, gestrichen: Urteile] von der geschichtlichen Praxis, über die sie gleichwohl nicht explizit inhaltlich informieren, zeicht sich an dem Sachverhalt, dass das damals pauschale Urteil unter den Bedingungen des organisierten Kapitalismus an besonderem Inhalt gewinnt. Die verallgemeinernde Frage nach dem Verhältnis von Basis und Überbau sollte deren differenzierte Beziehung generell logisch zusammenfassen. Doch ihre Differenz, die vorausgesetzt werden konnte und auf deren detaillierte Analyse, wie sie im Einzelnen beschaffen, es ankam, ist heute selbst fragwürdig geworden; sie scheint sich tendenziell durch die immanente Ideologisierung des Produktionsprozesses -- wie Marcuse und Adorno mutmaßen - zu nivellieren. Die allgemeine Aussage, wie denn das Verhältnis von Basis überhaupt beschaffen ist, beinhaltet heute eine aktuelle S[p]ezifität insofern, als ihre Differenz im allgemeinen geschichtlich sich verschoben hat. In diesen veränderten Verhältnissen beider gründet nicht immer ausdrücklich Lefèbvres Konzeption einer Metaphilosophie. Von hier aus gesehen hat sich das Schwergewicht von der Kritik der politischen Ökonomie auf eine Kritik des Alltagsleben verlagert, die eine soziologische Dimension eröffnet, auf der die neue Konstellation zwischen Überbau und Basis en detail sich am einsichtigsten dokumentiert -- sozialpsycholgisch und ökonomiekritisch. [Ende Seite 1] Lefèbvres kritischer Begriff des Marxismus konzipierte diesen von Anfang an als Theorie der Entfremdung, d.h. Speziell der entfremdeten Arbeit, von der Habermas sagt, dass sie für den Historischen Materialismus gleichsam propädeutischen Charakter habe. Diese an sich richtige Einsicht bedarf jedoch der Differenzierung. Entfremdung als analytisch zentrale Kategorie der "Frühschriften" ist ein subjektiver Begriff der gesellschaftlichen Objektivität, wie Marx überhaupt in diesen nicht zufällig ausdrücklich philosophiekrischischen Schriften den subjektiven Aspekt die Bewusstseinsformen von Sinnlichkeit, Ideologie und Entfremdung kritisiert. Das Werk der idealistischen Philosophie, an das er hauptsächlich kritisch ankämpft ist denn auch die Phänomenologie des Geistes (in den Paris[er] Manuskr[ipten]). Doch nicht aus philosophisch systematischen Gründen, sondern aus historischen Gründen enthalten die Frühschriften eine radikale Kritik an der Philosophie und nicht zuletzt wesentliche sozialpsychologische Einsichten, die -- lemmatisch wenngleich -- die Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft skizzieren. Der Kategorie Entfremdung -- deren objektiver Aspekt im Rohentwurf und im Kapital die Verdinglichung ist -- thematisiert wenn auch nicht sehr ausdrücklich schon genetischen Frühstadium des Hist[orischen] Materialism[us], dessen Objekt, den naturwüchsigen Schein mit welchem die kapitalistische Produktionsweise die bürgerliche Gesellschaft verschleiert. Der einheitliche Charakter der ersten Schriften Marxens besteht in der an Feuerbach anknüpfenden für die Genesis des Hist[orischen] Mat[erialismus] unentbehrlichen Restitution der Sinnlichkeit, wie Lefèbvre sie bezeichnet, die noch aufs engste der materialistischen Tradition -- zumal dessen hedonistischen Aspekt -- verhaftet ist. Sinnlichkeit ist ein sehr subjektiver, noch unentfalteter Begriff des Materialismus -- der spezifische Gegenstand des Hist[orischen] Mat[erialismus] verdeutlicht sich Marx erst unter für ihn selber veränderten geschichtlichen Umständen als Kritik an der polit[ischen] Ökonomie, die den objektiven Aspekt der gesellschaftlichen Objektivität analyisert, deren als naturwüchsig erscheindenden Krisenzusammenhang. Diese Verfestigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die immer mehr mit dem Schein der Naturwüchsigkeit sich ausstatten, hat sich [unleserlich] um ein vielfaches in den [unleserlich, endet vermutlich mit "sten"] Industrienationen mit kapitalistischer Produktionsweise verstärkt und erhärtet. Immer weniger erscheint die [Ende Seite 2] Welt veränderbar, diesem Sachverhalt trägt Lefèbvres Metaphilosophie als für sie konstitutiv Rechnung: es geht ihr wie der Kritik des Alltagslebens -- das dass Lefèvbre es so bezeichnet -- um die veränderte Fassung im Gegenstand des Historischen Materialismus, der scheinbaren Naturwüchsigkeit der kapital[istischen] Gesellschaftsformation selbst. Dabei haben sich Umstände ergeben, die nicht philosophisch revozierende Krise, sondern im materialistischen Sinn auf die Analyse der gesellschaftlichen Subjektivität zurückführen. Doch während Marx in den Frühschriften den Impetus revolutionär kritischer Praxis aus einer weitgehenden Distanz selbst noch des ideologisierten und entfremdeten Bewusstseins von der es leugnenden gesellschaftlichen Praxis zog, so ist die Subjektivität heute selbst unmittelbar in die Basis eingeführt; in dem Maße, in dem diese sich immanent subjektivieren hat sich die ideologisierte und entfremdete Subjektivität, die schon damals heteronom war, an sich selbst objektiviert, sich auf anderer Ebene die Entfremdung verdoppelt und in gewisser Hinsicht in dem Grad, in dem sie sich zu totalisieren anschickt auch aufgehoben. Lefèbvre spricht zu Recht von einer Entfremdung zweiten Grades. Darin liegt die Bedeutung einer Kritik der Alltagspraxis, in der basis- und bewusstseinsanalytische Probleme, auf dem Hintergrund sich nivellierenden Differenz beider, sich prononciert stellen. Doch, wenn man die spezifische Differenz zwischen der Struktur der Subjektivität zur Zeit der Frühschriften Marxens und in der Gegenwart berücksichtigt, ist ein so ungeteilter Rückgang auf die Frühschriften, welche Lefèbvres neuere Marx-Rezeption befürwortet (auch im Hinblick auf ihre anthropologische Entstellung) nicht erlaubt, zumal sich der objektiv naturwüchsige Schein der kapitalist[ischen] Gesellschaftsformation durch die von ihm aufgesaugte Objektivität nur noch verstärkt. So nimmt Lefèvbre nicht zuletzt zu Romantismen [unleserlich, endet auf "tischer"] Art Zuflucht. (Heidegger (poesis)), Unisprache [gemeint ist wohl die "universelle Sprache" der Kultur], Unzulänglichkeit der alten Kategorien, Rückkehr zur Poesie, l'homme total) Der Tauschwert ist die durch ein verdinglichendes quid pro quo dinghaft materialisierte Erscheindungsform des auf diese Weise sich ontisch darstellenden gesellschaftlichen Werts. Dieser in der Produktionsbasis selbst vollzogene Materialisierungsprozess beruht auf einer gesellschaftlichen Abstraktion. [Ende Seite 3] Dieser abstraktiv begründete, bis zum Fetischismus gehende -- Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft -- Verdinglichungsprozess ist die vom gesellschaftlichen Subjekt durch seine abstrakt denkenden Individuen vollzogene reale Konstitution fiktiver Gegenstände, der Wertkörper, die doch eine sehr dingliche, im konkreten Produktionsprozess konstitutiv angeeignete Naturalform besetzt halten. Der Fetischismus ist die Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft. Die pessimistische Schärfe spätbürgerlichen Denkens manifestiert sich in der Kritik der psychologia rationalis der naturgeschichtlichen Verfassung des an der Lust des unbewusst Abgelagerten tragenden Bewusstseins, das als verhältnismäßig aufgeklärtes nur der Spitze des Eisbergs -- Nietzsche zufolge -- gleiche. Nietzsche: Der Begriff gleitet am Leben ohnmächtig ab, weil das Leben an sich selbst durch seine gesellschaftliche Organisation begriffslos würde, das Alltagsleben. Dies gründet in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeiter, der kapitalistischen Produktionsweise, abstrakte Arbeit, Basis-Überbau. Gleichzeitig werden aber auch die tatsächlichen Vermittlungen zwischen Allgemeinen (das nicht nur Begriff ist) und Besonderm verschleiert. Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft gehört, dass sie ihre real dinglichen Produkte nicht von den eingebildeten zu trennen mag. Das hat ein fundamentum in re: die Bewusstseinsspaltung der Warendinge an sich selbst. Quelle: Digger-Journal
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