Krahl-Briefe > Krahlstudien, Vortrag in Frankfurt

Zur Praxis Kritischer Theorie

Hans-Jürgen Krahl und das unabgegoltene Erbe der Neuen Linken
(Vortrag von Krahlstudien im April 2004 in Frankfurt/Main)

Hans-Jürgen Krahl gehört längst nicht mehr zu den Personen, deren Bekanntheit einfach vorausgesetzt werden könnte -- und sei es auch nur innerhalb der theoretisch interessierten Linken. Allenfalls erinnerlich sind Mythen und Legenden um den rastlosen Theoriefreak und halbblinden Alkoholiker, wie sie von Zwerenz bis Wesel in Umlauf gebracht wurden. Diejenigen, die vorgeben, sich doch noch etwas genauer mit Krahls theoretischer Hinterlassenschaft auszukennen, weisen mitunter auf das Unfertige, Widersprüchliche und Unverständliche seiner Schriften, Reden und Entwürfe hin. Demgegenüber soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, Motive, Kritikpunkte und Theoreme zu veranschaulichen, die sich ungebrochen und durch das kurze, aber umso intensivere politische Denken und Handeln Hans-Jürgen Krahls in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zu ziehen. Möglicherweise lassen sich auf diese Weise Einsatzstellen markieren, den nach dem Ende der Studentenbewegung, der Neuen Linken und nicht zuletzt nach dem Tod Hans-Jürgen Krahls vor nun schon mehr drei Jahrzehnten keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt wurde, die aber in ihrer vollen Bedeutung und Tragweite theoretisch rekonstruiert werden müssen, um den politischen Kämpfen der Gegenwart und Zukunft ein qualifizierteres Bewußtsein ihrer selbst zu vermitteln.

Dieses nicht eben unbescheidene Vorhaben möchte ich an einem scheinbar praxisfernen Problem durchführen, das bei genauerer Betrachtung aber von eminenter politischer Bedeutung ist. Krahl ist zwar Frankfurter Schüler gewesen, ihn haben allerdings die Auseinandersetzungen der Studentenbewegung nicht weniger als die theoretischen Aporien der Frankfurter Schule selber dazu geführt, einen Praxisbegriff zu entfalten, der weder den pseudopolitischen Aktionismus fetischisierte noch das Lesen von Büchern in den Rang eines lebensrettenden Selbstzwecks erhob.

1. Krahls Konfrontation mit den Widersprüchen der Kritischen Theorie

Die Kritische Theorie hatte nie eine einheitliche Gestalt und lehnte den naiven Geschlossenheitsanspruch sogar bewußt als wissenschaftlichen Selbstbetrug ab. In den sechziger Jahren haben sich aus internen wie gesellschaftspolitischen Gründen die Widersprüche und Selbstwidersprüche der kritischen Theorie noch einmal verschärft. In der Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis trat den politisch bewegten und solchermaßen auch hin- und hergerissenen Studenten die Frankfurter Schule als organisations- und sogar aktionsskeptische Partei wider Willen entgegen.

Nach dem Scheitern der Revolution im Westen sahen Horkheimer und Konsorten den Marxismus in den zwanziger Jahren, also in der Gründungsphase des IfS, zur schonungslosen Selbstkritik veranlaßt. In dieser prinzipiellen Motivation wie auch in der Orientierung auf eine Analyse des subjektiven Faktors stimmten die Frankfurter insofern mit anderen marxistischen Erneuerern wie Lukács, Gramsci, Korsch, Reich oder Bloch überein. Das Schlagwort vom subjektiven Faktor meinte in diesem Diskussionszusammenhang des sogenannten westlichen Marxismus, daß sich die Kommunisten nicht ökonomistisch oder geschichtsoptimistisch auf den Zusammenbruch des Kapitalismus bzw. darauf verlassen dürften, daß ökonomische Krisen auch zur Überwindung bürgerlicher Subjektivität führten. Denn ganz offenbar verfügte der Kapitalismus über Rückzugsmöglichkeiten und Notfallpräparate, die bei der Herausbildung einer gesellschaftlichen Alternative nur um den Preis "der alten Scheiße" ignoriert werden durften. In den ersten Forschungsprogrammen des Instituts findet sich deshalb auch an prominenter Stelle (nämlich in der 1. Ausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung) das implizite Erkenntnisinteresse, der Arbeiterklasse (aber auch nicht nur ihr) im Angesicht von Stalinismus, Kulturindustrie und Faschisierung ein Bewußtsein davon zu ermöglichen, welches erschreckende Ausmaß die Zurichtung ihrer Subjektivität als Klasse bereits angenommen hatte.

Vor allem Horkheimers Begriff gesellschaftlicher Praxis kann in dieser Phase als antipositivistisch und antimetaphysisch verstanden werden. Wie sich intellektuelle Erkenntnis nicht aus himmelblauer Spekulation oder dem exaktem Abzählen sogenannter Fakten ergibt, so geht sie als gutes Gewissen einer schlechten Welt oder als unmittelbare Gebrauchsanweisung in gesellschaftliche Praxis umgekehrt nur um den Preis ihrer Selbstaufgabe ein. Die sozialphilosophische Kritik an Metaphysik und Positivismus wurde von Horkheimer stattdessen als eine gerade noch verantwortbare Form eingreifenden Denkens verstanden. In ihrer Ausstrahlung auf Teile der intellektuellen Öffentlichkeit sei sozial unerwünschte Kritik nämlich einzig imstande, den durchaus noch wahrnehmbaren menschlichen Anspruch auf Wahrheit und Glück in einer sich bedrohlich verfinsternden Welt vor den sozialen Naturgewalten technischer Rationalität zu retten. Andere dem Namen nach systemsprengende Kräfte könnten das eigentlich nur noch in sehr eingeschränktem Maße von sich behaupten. Oppositionelle Parteien, sozialistische Gewerkschaften, aber auch der linke Arm der Kulturindustrie hätten sich Horkheimer zufolge nämlich durch vorauseilende Anpassung ans Bestehende mit diesem bereits mehr als gemein gemacht. Entsprechend spärlich waren die Kontakte, die zwischen dem Institut für Sozialforschung und, warum es nicht einmal ganz deutlich monieren, beispielsweise den Organisationen der Arbeiterbewegung im Volksstaat Hessen bestanden. (MEGA-Zusammenarbeit mit Rjazanow) Im Nachhinein muß man vermuten, daß die tiefe Trennung der Lebenswelten von bürgerlichen Gelehrten, die im Taunus wohnten und Arbeitern aus Offenbach, Hanau oder Frankfurt-Hoechst eine uneingestandene Voraussetzung für gegenseitiges Desinteresse, Mißtrauen und Unverständnis war.

Allen Bedenken zum Trotz begriff sich die Kritische Theorie in ihrer Frühphase noch immer als intellektuelle Reflexionsform der Arbeiterbewegung: "Der Gang der Auseinandersetzung zwischen den fortgeschrittenen Teilen der Klasse und den Individuen, welche die Wahrheit über sie aussprechen, ferner die Auseinandersetzung zwischen diesen fortgeschrittenen Teilen mitsamt ihren Theoretikern und der übrigen Klasse ist als ein Prozeß der Wechselwirkung zu verstehen, bei dem das Bewußtsein mit seinen befreienden zugleich seine antreibenden, disziplinierenden, aggressiven Kräfte entfaltet." (Horkheimer)

Das änderte sich nach der pessimistischen, antitotalitären Wende der Kritischen Theorie ab Ende der dreißiger Jahre. In einem autobiographischen Resümee der Kritischen Theorie meinte Leo Löwenthal einmal: "Wir haben nicht die Praxis, die Praxis hat uns verlassen." Alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte, denen man durchaus noch zugetraut hatte, sich dem Vormarsch der Barbarei eventuell noch in den Weg stellen zu können, hatten völlig versagt. Für die ins Exil getriebenen und dem Holocaust entronnenen Frankfurter Juden waren angesichts von Auschwitz nahezu sämtliche theoretischen und praktischen Orientierungspunkte abhanden gekommen. Diese fast völlige Erschütterung des Restvertrauens in die Welt konnte sich nicht mehr mit einer Selbstkritik des Sozialismus oder Marxismus begnügen, sondern mußte noch einmal ganz vorne und also beim geschichtlichen Verhältnis von Mensch und Natur anfangen. Interessanterweise ging diese radikale Enttäuschung über weitergehende gesellschaftliche Transformationsperspektiven bei der Neugründung des Instituts für Sozialforschung einher mit einem deutlich pragmatisierten Verhältnis zu bestehenden Institutionen und Gewalten. Wenn eine von Marx, Nietzsche und Freud inspirierte Selbstkritik der Arbeiterbewegung sinnlos und obsolet geworden ist, konnte vielleicht die Selbstbehauptung eines moralischen Minimums noch würdevoll genug sein, sich ihren überaus prekären Kompromißcharakter einzugestehen. Insofern sahen sich Frankfurter Philosophiestudenten Mitte der sechziger Jahre mit einer der Selbstbeschreibung nach wie vor kritischen Theorie konfrontiert, die politische Praxis in einem traditionellen Sinne nicht allein für nicht mehr möglich, sondern sogar für einen Teil des Problems hielten. In verschiedensten Ausformulierungen vor allem von Horkheimer und Adorno findet sich deshalb immer wieder der Gedanke, daß eingreifendes Denken im Brechtschen Sinne immer schon die Beschränkung auf das real vorfindbare zur Voraussetzung habe. Die relative Autonomie dialektischer Phantasie, die in der Lage sei, durch das Bewusstsein ihrer eigenen Hinfälligkeit einzig noch die Ahnung vom Besseren am Leben zu erhalten, würde dadurch vernichtet und gruppiere sich selbst in jene total verwaltete Welt ein, die zu überwinden sie angetreten sei. Waren für Adorno einzig noch Kunst und Musik überhaupt noch zum Bewusstsein ihrer eigenen Beschädigung in der Lage und geeignet, in der Realisierung dieses Unglücks die Möglichkeit des Besseren aufzuweisen, so nahmen für Horkheimer Religion und Metaphysik diese Stelle ein.

Die pessimistische Wende der kritischen Theorie vollzog sich auch institutsintern alles andere als reibungslos. Zwar enthält auch das Ausgangsmotiv der marxistischen Selbstkritik schon den einen oder anderen Hinweis auf eine Möglichkeit zur solipsistischen Verselbständigung von Vernunftkritik (Selbstkritik als Selbststilisierung) -- wichtiger als Fragen von dialektischer Konsequenz waren aber neben den realgeschichtlicher Erfahrungen die intellektuellen Auseinandersetzungen um deren Interpretation. Beispielsweise kann für die Rekonstruktionsphase der Frankfurter Schule nach der Rückkehr aus dem Exil keineswegs von einer gleichmäßigen theoriepolitischen Orientierung gesprochen werden. Aus Horkheimers Sicht beispielsweise war die Gefahr einer neofaschistischen Restauration dermaßen akut, daß das Institut jede Form von politischer Provokation unterlassen sollte. Ganz in diesem Sinne riet Horkheimer Adorno nicht nur von einer beabsichtigten Kritik des Godesberger SPD-Programms ab und verhinderte nicht nur die Habilitation von Habermas, nachdem dieser eine politische Kritik am pronazistischen Opportunismus Martin Heideggers veröffentlicht hatte. Horkheimer bot die Kapazitäten des Instituts auch an, um eine von Mannesmann in Auftrag gegebene Studie zum Betriebsklima durchzuführen und achtete bei öffentlichen Auftritten streng darauf, nirgendwo Zweifel an seiner antitotalitären Grundeinstellung aufkommen zu lassen -- und wenn er soweit gehen mußte, die Kriegführung der USA in Vietnam mit zum Teil überaus primitiven antiasiatischen Ressentiments zu legitimieren.

Als jemand, den Horkheimer schon in den fünfziger Jahren für zu links befunden hatte und der sich beim gewerkschaftlich aktiven Linkssozialisten Wolfgang Abendroth ("Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer") habilitiert hatte, hegte Habermas kaum kulturkonservative Vorbehalte gegen eine Reformpolitik der kleinen Schritte, die die Welt der versachlichten Zwänge wieder der lebendigen Partizipation zugänglich machen würde. Nach Einschätzung Krahls richtete sich Habermas politisches Engagement in den sechziger Jahren konsequenterweise auf das Projekt einer sozialen und demokratischen Gegenkoalition vom Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein bis zum IG Metall-Vorsitzenden Otto Brenner.

Herbert Marcuse hielt im Unterschied zu Habermas sogar die Revolution noch für möglich. Während die Arbeiterklasse als deren traditionelles Subjekt durch die falsche Bedürfnisproduktion der Konsumgesellschaft und durch repressive Entsublimierung selbst um den Emanzipationswunsch gebracht worden sei (Marcuses linksfreudianische Version einer Dialektik der Emanzipation), hätten die alten, potentiell systemüberwindenden Konflikte ihre Brisanz verloren und stattdessen an den Rändern der überentwickelten Gesellschaften, mithin bei den Jugendlichen, den Erwerbslosen, den unterdrückten Minderheiten, aber auch den Frauen und den Völkern der Dritten Welt neue Gestalt angenommen. Als große Weigerung würde die totale Revolution nicht allein der Produktionsverhältnisse, sondern auch der menschlichen Produktivkräfte selbst ihren Ausgang nehmen.

Während Habermas und Marcuse auf unterschiedliche Art immer auch theoretisch an der Möglichkeit oppositioneller Aktivität und gesellschaftlicher Transformation festgehalten haben, tendierten Adorno und Horkheimer theoretisch zusehends stärker dazu, sie als eines von vielen Momenten der übermächtigen Tendenz zu Gleichschaltung und Ichzerfall zu stilisieren. Als einem schlecht naiven fiele auch dem noch so guten Willen zu Veränderung und Selbstveränderung mit verheerender Konsequenz alles noch nicht restlos von den gesellschaftlichen Vorschriften der Instrumentalität und Anschlußfähigkeit Normierte und Absorbierte zum Opfer. Aktivismus war für Adorno und Horkheimer mithin insofern problematisch, als er dazu tendierte, sich über das Maß seiner eigenen Verstrickung ins Bestehende hinweg zu täuschen und insofern gerade dort am weitaus affirmativsten wirke, wo er sich am radikalsten wähne. So tief sich aufgeklärte Dialektik aber über die Dialektik der Aufklärung enttäuscht zeigte, so wenig konnte sie ihr eigener theoretischer Befund gesellschaftlicher Hermetik davon abhalten, sich gewissermaßen wider besseres Wissen in die angeblich so hermetisch abgeriegelte politische Öffentlichkeit einzumischen. Weder Horkheimer noch Adorno zogen sich nämlich in den fünfziger und sechziger Jahren aus Frustration über die restaurativen Verhältnisse an ihren Schreibtisch und ins Privatleben zurück. Vielmehr nutzten sie vor allem Radio, aber auch in der Universität und andren öffentlichen Foren zahlreiche sich bietende Gelegenheiten, um die Notwendigkeit einer nonkonformistischen Intelligenz sowohl wissenschaftlich zu begründen als auch politisch zu inspirieren. Im praktischen Verhältnis zu sich selbst und im offenkundigen Widerspruch zu einer durchaus naheliegenden Lesart ihrer Hauptwerke lief also die politische Weisheit der Frankfurter Schule nicht etwa auf Selbstisolation, Eremitage und Defätismus hinaus, sondern auf eine nur relativ unkonventionelle Form gelebter politischer Intellektualität. Ihre kritische Theorie hatten Horkheimer und Adorno zwar im vollen Ernst noch nie an die Arbeiterklasse oder ihre politische Bewegung adressiert, dieses für den westlichen Marxismus insgesamt charakteristische Schisma bedeutete nun aber auch nach der theoretischen Wende in den antitotalitären Pessimismus nicht, daß beide nur mehr noch, wie es in der Dialektik der Aufklärung hieß, für einen eingebildeten Zeugen schrieben. Immerhin fanden sie in Teilen der intellektuellen Öffentlichkeit ein nicht nur dankbares, sondern durchaus auch lernwilliges und selbstkritisches Publikum.

Zu diesem lernwilligen Publikum zählte auch Hans-Jürgen Krahl, Sohn rechtskonservativer Bildungsbürger aus Niedersachsen, der Mitte der sechziger Jahre nach Frankfurt gekommen war und sich dort rasch dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund angeschlossen hatte. In dem nach seinem plötzlichen Unfalltod veröffentlichten Band von Schriften, Reden und Entwürfen aus den Jahren 1966-1970 finden sich zunächst eine Reihe von Hausarbeiten, Thesenpapieren und Referaten, die Krahl zu Seminaren von Horkheimer, Adorno, Alfred Schmidt und anderen angefertigt hat. Sie zeugen von einer intensiven philosophischen Marxlektüre und einer überaus fruchtbaren Aneignung dessen, was Perry Anderson später als westlichen Marxismus hat: theoriegeschichtliche Ereignisse wie die Werke von Lukács, Korsch, Lefebvre, Sartre, Marcuse, Horkheimer und Adorno wurden von ihm, wenn der Eindruck der Exzerpte nicht täuscht, nicht bloß in der Manier abstrakter Bildungsgüter zur Kenntnis genommen und sortiert, sondern wahrhaft studiert, durchgearbeitet und dialektisch weitergedacht. Adorno bezeichnete Krahl sogar einmal als einen seiner begabtesten Schüler. Diese Wertschätzung und Anerkennung von Seiten des akademischen Lehrers änderte allerdings nicht daran, daß Krahl sich zusehends jener Widersprüche der Frankfurter Schule bewusst wurde, die eine studentische Basisgruppe Soziologie folgendermaßen formulierte: "Wir haben keine Lust, die linken Idioten des autoritären Staates zu spielen, die kritisch in der Theorie sind, angepasst aber in der Praxis. Wir nehmen den Anspruch Horkheimers ernst, [den er in dem 1934 veröffentlichten Aphorismenband "Dämmerung" formuliert hatte]: Die revolutionäre Karriere führt nicht über Bankette und Ehrentitel, über interesssante Forschungen und Professorengehälter, sondern über Elend, Schande, Undankbarkeit, Zuchthaus ins Ungewisse, das nur ein fast übermenschlicher Stern erhellt. Von bloß begabten Leuten wird sie daher selten eingeschlagen." Im folgenden Abschnitt soll deshalb anhand der Zeitdiagnose Krahls dargestellt werden, welche Bestimmungen der gesellschaftlichen Lage ihn Mitte der sechziger Jahre zu praktischen Konsequenzen trieben und welche Rolle dabei die Widersprüche spielten, in die die Kritische Theorie nicht zuletzt von der Protestbewegung der Lehrlinge und Studenten getrieben wurde.

2. Umrisse einer alternativen Zeitdiagnose: Zuspitzung statt Stillstellung gesellschaftlicher Widersprüche

Krahls Zeitdiagnose setzt sich aus drei Hauptteilen zusammen: erstens folgt er der vor allem von Pollock und Horkheimer frühzeitig angefertigten Analyse des autoritären, mit Faschisierungspotentialen aufgeladenenen Staates. Dessen Funktionsweise zeichnet es zweitens aus, daß sozialdemokratische und stalinistische Erben der traditionellen Arbeiterbewegung weitgehend in das System autöritärer Herrschaft integriert worden sind. Konnten Adorno und Horkheimer sich mit dieser Gegenwartsbestimmung des Kapitalismus unter Umständen gerade noch einverstanden erklären -- die politische Konsequenz Krahls mißbilligten sie auf alle Fälle. Er ging nämlich im denkbar krassesten Widerspruch zu ihnen von der Aktualität der Revolution sowohl in den Zentren als auch in den Peripherien aus. Im folgenden möchte ich deshalb auf diese drei zeitdiagnostischen Theoreme kurz eingehen.

Im Unterschied zu den klassischen Imperialismustheorien der zweiten und dritten Internationale (Hilferding, Kautsky, Lenin, Luxemburg und Bucharin) sind die Ende der dreißiger Jahre zuerst von Pollock und Horkheimer vorgelegten Analysen und Beschreibungen des autoritären Staates nicht als Krisen- sondern eher schon als Stabilisierungstheorie angelegt. Die Herrschaft der Trusts und Monopole, der massive Eingriff des Staates in Produktions- und Austauschbeziehungen und die bürokratische Bevormundung aller Bürger durch staatliche und parastaatliche Administrationen ließen Horkheimer zufolge sich nicht mehr umstandslos als definitiv letzte Phase kapitalistischer Krisensuspendierung begreifen. Vielmehr hatte sich die Gefahr vergrößert, daß dem Kapitalismus des autoritären Staates Machtressourcen in einer Größenordnung zugewachsen waren, die die terroristische Stillstellung gesellschaftlicher Antagonismen erstmals auf lange Sicht möglich erscheinen ließen. Planungs-, Verwaltungs- und Lenkungskapazitäten des autoritären Staates speisten sich Horkheimers und auch Krahls Ansicht nach nicht zuletzt aus den autoritären Dispositionen der Bevölkerungsmassen. Zusammen mit den Zwangsroutinen des Alltagslebens in der industriekapitalistischen Zivilisation waren diese von den klassischen Imperialismustheoretikern entweder für irrelevant erklärt oder im schlimmsten Fall sogar affirmiert worden. Im Unterschied zu den leninistischen Apologeten von Fabrikregime und Vertrustung konnte antiautoritären Sozialisten aber alles andere als gleichgültig sein, was unter den Bedingungen einer weitgehend liquidierten Zirkulationssphäre aus den in die Vereinzelung gezwungenen Fähigkeiten zur Selbstorganisation des Lebens geworden war. Für die Epoche des autoritären Staates, der übrigens sozialdemokratische Regime ebenso umfaßte wie faschistische und stalinistische registrierte Horkheimer einen fatalen Umschlag von Volkssouveränität in verallgemeinerte Knechtschaft: statt auf dem Weg eines Gesellschaftsvertrages die Freiheit aller zu verwirklichen, leistete die Monopolisierung der Gewalt im Staatsapparat einen in all seiner Modernität lückenlosen Beitrag zur Herausbildung ebenso disziplinierter wie funktionstüchtiger Bevölkerungsmassen. "Durchaus fraglich" ist nach Krahls Ansicht deshalb, "ob revolutionäre Theorie noch als Kritik der politischen Ökonomie möglich ist, oder schon, wie Marcuse es unausgesprochen annimmt, als Kritik der politischen Technologie geschrieben werden muß." Dem Theorem des autoritären Staates wird aus heutiger Perspektive des öfteren vorgeworfen, seine relative Gültigkeit für die Periode des fordistischen Korporatismus nach dessen Zusammenbruch inzwischen vollkommen eingebüßt zu haben. Neoliberale Marktsteuerung, Privatisierung und Deregulierung öffentlicher Dienste könnten von einer solchen Zeitdiagnose nicht annähernd mehr erfaßt werden. So irreführend die Behauptung sicher wäre, an Funktionsweise und Dynamik kapitalistischer Entwicklung hätte sich in den vergangenen drei Jahrzehnten nichts verändert, so erkenntnisfördernd kann die Infragestellung einer modisch gewordenen Kapitalismuskritik sein, die sich dadurch disqualifiziert, neoliberale Ideologen einerseits sehr weitgehend beim Wort zu nehmen und andererseits autoritäre Faschisierungspotentiale im Kapitalismus schlichtweg zu verleugnen.

Erstens sind ökonomische Konzentrations- und Vermachtungsprozesse im oft so genannten Postfordismus nicht etwa revidiert, sondern ganz im Gegenteil auf internationaler Stufenleiter nochmals zusätzlich verschärft worden. Die Möglichkeiten transnationaler Konzerne, im Zulieferungsbereich auf Vorprodukthersteller, im Produktionsprozeß auf Arbeitskräfte, im Absatzprozeß auf Konsumenten und im sozialen Raum auf verschiedene Standorte originär politischen Druck auszuüben, sind durch schiere Größe und durchgreifende Senkung der Transaktionskosten erheblich gesteigert worden. Zweitens läßt sich in den Zentren des Kapitals nicht etwa eine durchgreifende Schwächung, sondern höchstens eine Umstrukturierung unvermindert mächtiger Staatsapparate beobachten. Dies gilt nicht nur -- wie gelegentlich noch bemerkt -- für den Ausbau der Repressionsorgane, die Remilitarisierung der Außenpolitik und die Eliminierung des Scheins parlamentarischer Mitbestimmung. In jahrzehntelang unvorstellbarem Maße diszipliniert der Staat als ökonomische Autorität auch das Erwerbslosenheer und mit ihm die noch erwerbstätigen Mehrheiten der Arbeiterklasse. Gleichzeitig organisiert er zum Zwecke der Profitratensanierung mit aller Macht die Sozialisierung von Kostenpunkten und die Privatisierung von Gewinnspannen. Drittens läßt die Destruktivkraftentwicklung in der Rüstungs-, Gen- und Manipulationstechnologie an den Alpträumen von Orwell und Huxley längst Alterungserscheinungen offenkundig werden. Beispiel. Für die brandgefährliche Aktualität autoritärer Potentiale im Gegenwartskapitalismus spricht nicht zuletzt viertens, daß sich in Europa allenthalben Unterströmungen, Bewegungen und Parteien des extrem rechten Scheinprotests formiert haben, der noch dem autoritären Staat Knochenerweichung im Kulturkampf für Sekundärtugenden und gegen barbarische Horden vorwirft. Angesichts derartiger hier nur in aller Kürze aufgelisteten Tendenzen erscheint Krahls vor 35 Jahren ausgesprochene Warnung vor einer "autoritativen Verstaatlichung der Gesellschaft und der totalitären Eindimensionalisierung einer technologisch durchrationalisierten Lebenswelt" alles andere als veraltet und überholt.

Dieser Eindruck verstärkt sich beim Rückblick auf den zweiten Hauptbestandteil der Krahlschen Zeitdiagnose, der sich auf die Integration ehedem antagonistischer Kräfte ins System autoritärer Herrschaft bezog -- und zwar sowohl im innergesellschaftlichen als auch im weltpolitischen Maßstab. Krahl stand wie auch Horkheimer der Wohlfahrtsstaat fordistischer Prägung vor Augen, dessen sozialreformerische Tendenz geeignet war, die einstmals revolutionären Organisationsformen der Arbeiterklasse in die autoritäre Exekutive zu integrieren. Er schloß sich sogar dem für heutige Ohren ungewohnt harten Urteil von Herbert Marcuse über diesen Wohlfahrtsstaat an. "Der autoritäre Wohlfahrtsstaat stellt das Bild einer historischen Mißgeburt zwischen organisierten Kapitalismus und Sozialismus, Knechtschaft und Freiheit, Totalitarismus und Glück vor. Der autoritäre Staat ist die kapitalistisch verzerrte Karikatur des Sozialismus." (Krahl 219) Der autoritäre Staat kann als Karikatur des Sozialismus erscheinen, weil die monopolkapitalistische Anerkennung der Arbeiterorganisationen diesen Mitbestimmungsmöglichkeiten, Planungskompetenzen und Regierungsbeteiligungen eingebracht hat. Eine reformistische Überwindung des Systems rückte damit in den Bereich des zumindest Denkbaren. Die gleichzeitige Entmündigung, Fremdbestimmung und Passivierung der abhängig Beschäftigten durch ihre eigenen Organisationen verdeutlicht gleichwohl die Funktionalität dieses Sozialkorporatismus für das Weiterbestehen des Systems. Krahl verfolgt diese Tendenz zur Integration der Sozialdemokratie in die Apparaturen des autoritären Staates bis zum ersten Weltkrieg zurück. Schon damals sei der technikoptimistische Fortschrittsglaube der Arbeiterbewegung ein Einfallstor für reformistische Illusionen über die graduelle Veränderbarkeit des organisierten Kapitalismus gewesen.

Unvermindert aktuell klingt Krahls Urteil über die Dominanz sozialpartnerschaftlicher Orientierungen in den Gewerkschaften. Diese hätten sich der Politik der konzertierten Aktion mit Staat und Kapital nicht etwa aus Zufall untergeordnet, sondern erfüllten damit nur die ihnen im System des autoritären Staates zugewiesene Funktion. "Die deutschen Gewerkschaften haben nach dem Krieg so gut wie nichts getan, um die Arbeiter davon zu überzeugen, daß der Streik nicht nur ein berechtigtes, sondern ein notwendiges Mittel der Wahrnehmung politischer und sozialer Interessen ist. Sie haben hilflos wenig getan, um die Massen zur mündigen Selbstwahrnehmung materieller Ansprüche anzuleiten, sie haben jene nur allzu oft in trügerischer Sicherheit gewiegt." Sozialpartnerschaft mit dem Kapital einerseits und widerstandslos hingenommene Entmündigung der eigenen sozialen Basis andererseits: was Krahl für die politische Integration einstiger Antagonisten des Kapitals herausgearbeitet hat, kann heute problemlos auch auf diejenigen Bewegungen und Kräfte angewandt werden, die im engeren oder weiteren Sinnen aus der Studenten- und Lehrlingsbewegung Ende der sechziger Jahre hervorgegangen sind. So kann zwar über zivilgesellschaftliche Variationen im Modus autoritärer Integration noch debattiert werden. Offenkundig ist aber, dass sich in den neuen sozialen Bewegungen, den in den siebziger Jahren ebenfalls nach links gerückten Gewerkschaften und in der grünen Partei soziale, ökologische, basisdemokratische und gewaltfreie Orientierungen in ihr reines Gegenteil verkehrt haben. In zumindest einer Hinsichten stand also die Studenten- und Lehrlingsbewegung Ende der sechziger Jahre vor einer ähnlichen Herausforderung wie wir heute: autoritäre Tendenzen im Kapitalismus verschärfen sich im Maße der politischen Integration ehedem systemkritischer Kräfte in eine faktische Allparteienkoalition. [Anders ausgedrückt in der Habermas-Kritik von Krahl: "Denn das Gefängnis der institutionell verankerten traditionellen Kompromisspolitik, deren republikanische Freiheiten und demokratische Substanz herrschaftsfunktional ausgehöhlt wurden, hindert den liberalen Kritiker]

Horkheimer mochte sich selbst angesichts von Großer Koalition, Notstandsgesetzen und autoritären Hetzkampagnen nicht einmal mehr mit dieser Zustandsbeschreibung eines sich alternativlos präsentierenden autoritären Systems einverstanden erklären, sondern machte sich unter Zuhilfenahme widerwärtiger anti-asiatischer Ressentiments ganz offen zum Fürsprecher von US-Imperialismus und antikommunistischer Blockbildung. Trotz dieser Widersprüche blieb auch Krahls Zeitdiagnose in wesentlichen Teilen dem verhaftet, was Horkheimer und Adorno in den dreißiger und vierziger Jahren über eine sich verfinsternde Welt rivalisierender Gruppen von Räuberstaaten geschrieben hatten. Die bis hierhin also lediglich im Latenzstadium befindlichen Differenzen brachen vollends auf, als Krahl aus der Bestimmung gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen nicht etwa den Schluss zog, alles politische Handeln sei vergebens, sondern als er auf der Aktualität der Revolution beharrte, die den dritten Hauptbestandteil seiner politischen Perspektive konstituierte.

Vor dem Hintergrund der Beschreibung des autoritären Staates musste die Annahme von der Aktualität der Revolutionen zunächst voluntaristisch erscheinen. Der Revolutionär sah sich übermächtigen und quasi-totalitären Integrationsmechanismen gegenüber, verbot sich aber Rückzug und Resignation und verlangte von sich und anderen stattdessen eine verstärkte Anstrengung des Willens -- mithin eine kreative Schöpfung politischer Subjektivität. Und tatsächlich maßen Krahl und Dutschke in ihrem Organisationsreferat vor SDS-Delegierten dem Voluntarismus eine neuartige historische Bedeutung bei, die die Treffsicherheit der traditionellen marxistischen Anarchismuskritik einzuschränken imstande sei. Gerade aufgrund der kapitalistischen Entwicklungslogik, die an ihr Ende gelangt und in den integralen Etatismus übergegangen sei, stünde ihrer Auffassung nach aktuell die Revolution auf der Tagesordnung. Den Hintergrund für diese Rehabilitierung des Voluntarismus und auch seine Überzeugungskraft bildete aber das Aufbrechen der formierten Gesellschaft, die spontane Entstehung systemoppositioneller Strömungen in den Metropolen und vor allem der Aufschwung antiimperialistischer Befreiungsbewegungen in den Peripherien des Kapitals. So sehr also Krahl aus rhetorischen Gründen das Lippenbekenntnis des jungen Horkheimer zum Primat des revolutionären Willens zitierte -- nichts hatte ihn so sehr in einen politischen Gegensatz zu seinen akademischen Lehrern wie die antiautoritäre, gegen das Establishment gerichtete Bewegung der Schüler, Lehrlinge und Studenten. Auch wenn die Analyse des integralen Etatismus anderes nahezulegen schien - hier konnte im Ernst nicht mehr von einer Stillstellung und Überformung, sondern im Gegenteil von einer Reaktualisierung und Zuspitzung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen gesprochen werden. "Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus ist die Revolution eine global gegenwärtige und anschauliche Möglichkeit, die sich als bewaffneter Kampf freilich nur an der Peripherie der spätkapitalistischen Zivilisation -- den unterdrückten und verelendeten Ländern der dritten Welt verwirklicht. [...] Die schon erwähnte abstrakte Gegenwart der Revolution in der Dritten Welt liefert der Protestbewegung in den Metropolen ein neues weltgeschichtliches Bezugssystem, an dem sie die Möglichkeit der Organisation einer eigenen revolutionären Politik orientieren kann." (Krahl) Krahl hielt die Revolution aber nicht nur für aktuell, seine Begriff von ihr ging auch über den der traditionellen Linken deutlich hinaus. "Sinn der Revolution ist, dass die Menschen die von ihnen gemachte Geschichte mit Bewusstsein machen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern nur mit Bewusstsein ihre alte zustandebringt. Das letzte Gefecht soll die schäbige materialistische Doktrin der kapitalistischen Realität, derzufolge das materielle Sein das Bewusstsein bestimmt, nicht etwa verwirklichen, sondern endgültig außer Kraft setzen." (Krahl)

3. Zur Praxis politischer Intellektualität in gesellschaftlichen Kämpfen

Vor dem theoretischen Hintergrund der Krahlschen Zeitdiagnose und ihrer drei Hauptbestandteile autoritärer Staat, Integration politischer Antagonismen und Aktualität der Revolution möchte ich in einem letzten Teil auf praktische Konsequenzen und also auf die Aktivitäten Hans-Jürgen Krahls als politischer Intellektueller in der Studentenbewegung näher eingehen. Auch das in drei Schritten: zunächst möchte ich den Modus der Einmischung in die verschiedenen Kämpfe der zweiten Hälfte der sechziger Jahre thematisieren, dann Krahls auf diese Auseinandersetzungen bezogene Reflexion des Gegensatzes von autoritären Kaderparteien und politischem Spontaneismus vorstellen und schließlich zur Ideologiekritik des antiautoritären Kapitalismus kommen, die für ihn so etwas wie eine Zwischenbilanz der Studentenbewegung und ihrer inneren Widersprüche war.

Zum ersten Punkt: als Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes waren die Kämpfe dieser Organisation auch weitgehend diejenigen Hans-Jürgen Krahls. In einem Redebeitrag auf dem Berliner Vietnam-Kongreß 1968 schlug er vor, die praktische Solidarität mit der vietnamesischen Revolution durch die Entfaltung einer Kampagne gegen die NATO zu vermitteln, die umfunktioniert werden sollte zu einem Instrument gegen die sozialrevolutionären Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Die schrittweise Herausbildung einer gegen die NATO gerichteten Bewegung in den Metropolen könnte einerseits organisatorische Voraussetzungen für eine praktische Internationalisierung des Protestes in Westeuropa schaffen und perspektivisch zur Herausbildung einer inneren und insofern zweiten Front gegen den US-Imperialismus und seine Verbündeten führen, womit sich gleichzeitig der militärische Bewegungsspielraum des Vietcong verbreitere. Auf dem Frankfurter Römerberg sprach Krahl im Mai 1968 auf einer vom hessischen DGB veranstalteten Kundgebung gegen die Notstandsgesetze und prangerte bei dieser Gelegenheit die allzu zögerliche und vorsichtige Kritik der Gewerkschaften an. "Notstandsgesetze leiten keineswegs erst einen Zustand der Gewalt ein, sie sollen vielmehr einen Gewaltzustand rechtfertigen und forttreiben, der schon längst begonnen hat. Die Herrschenden wollen der Bevölkerung mit allen Mitteln einreden, unsere Aktionen seien Terror. Um dies zu beweisen schrecken sie auch nicht vor offenen Lügen zurück. Wir aber erwidern ihnen: Gewalt, das ist die Volksverhetzung der Bildzeitung. Gewalt, das ist die Vorbereitung der Notstandsdiktatur. Und dagegen nehmen wir das Recht der Geschlagenen in Anspruch, das elementare Recht auf Notwehr und Widerstand." Krahl und der SDS nutzten verschiedenste Formen und Foren, um ihre Grundsatzkritik und die aus ihr abgeleiteten Konsequenzen zur Geltung zu bringen: Kongresse, öffentliche Reden, Teilnahme an Diskussionspodien, teach-ins, Zeitschriftenbeiträge und vor allem: unermüdliche Überzeugungsarbeit an der Basis, im Seminar und in der Kneipe. Zu seinen wohl prominentesten Interventionen zählte der Versuch zur Politisierung und Umgestaltung der Hochschule. Aus einer Institution zur Reproduktion von Herrschaftswissen und zur Ausbildung von bürgerlichen Führungskadern sollte durch Streikbewegungen, Institutsbesetzungen und öffentlichen Druck eine für alle offene Plattform zur Vorbereitung gesellschaftlicher Umwälzungen werden. "Entgegen der Manipulation von Presse und Regierung, die uns von der Bevölkerung mit aller Geaalt isolieren wollen, hat die außerparlamentarische Opposition ihre Basis ständig erweitert: zunächst waren es die Studenten, dann die Schüler, jetzt sind es junge Arbeiter und immer mehr auch ältere Kollegen. Unsere Demokratie ist direkt und unmittelbar. Es gibt keinen Sprecher und keine Gruppen, die sich nicht den Entscheidungen der Anwesenden unterwerfen müssten, es gibt keine Funktionäre, die einen Posten auf Lebenszeit einnehmen, alle unmittelbar Beteiligten entscheiden in direkter Abstimmung über die politischen Aktionen und Ziele. Dies ist der Hintergrund, auf dem die Organisation des Widerstandes vorgenommen werden muss." (Krahl) Im Anschluss an einen aktiven Uni-Streik mit alternativem Seminarprogramm kam es im Januar 1969 erst zur Besetzung des Soziologischen Seminars und schließlich auch zur vorübergehenden Besetzung des Instituts für Sozialforschung, die seither symbolisch für die Entfremdung von Frankfurter Schule und Studentenbewegung steht. Auf Anweisung von Adorno wurde das Institut von der Polizei geräumt und Krahl wegen Hausfriedensbruch mehrere Tage in Untersuchungshaft genommen. Während Adorno meinte, er hätte ein theoretisches Denkmodell aufgestellt und weder ahnen können noch beabsichtigen wollen, dass Leute es mit Molotowcocktails verwirklichen wollen, zeigte der ohnehin ungleich stärker sich in die realen Bewegungen einmischende Herbert Marcuse Verständnis für die Studenten und Unverständnis für das Paktieren mit der Polizei: unmittelbar sei die Theorie zwar nicht in die Praxis umzusetzen. "Aber ich glaube, dass es Situationen, Momente gibt, in denen die Theorie von der Praxis weitergetrieben wird -- Situationen und Momente, in denen die sich von der Praxis fernhaltende Theorie sich selbst untreu wird. Wir können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass diese Studenten von uns (und sicher nicht am wenigsten von Dir) beeinflusst sind." (Marcuse)

Adorno hatte Krahl vorgeworfen, dass dieser die Institutsbesetzung vor allem zur Binnenintegration des im Zerfall befindlichen SDS instrumentalisieren wollte. Dieser Vorwurf kann am besten dadurch entkräftet werden, dass Krahl der Letzte war, den politisches Engagement blind gegen Eigendynamiken, unreflektierte Zwänge und Zerfallsprozesse gemacht hätte. Im Gegenteil: gerade die Involvierung in praktische Auseinandersetzungen schärften seinen Sinn für das auf und ab der Bewegung. Eine Reihe der in Konstitution und Klassenkampf abgedruckten Beiträge kann insofern auch als Reflexion über die Verlaufsform der Bewegung, deren inneren Widersprüche und Gestaltwandel gelesen werden.

Mit dieser Reflexion möchte ich mich anhand des Gegensatzes von traditionalistischem und antiautoritären Flügel im SDS auseinandersetzen, in die sich Krahl als neben Dutschke wohl bekanntester Fürsprecher einer antiautoritären Linie einmischte. Gerichtet waren seine organisationsinternen Interventionen zunächst gegen diejenigen SDS-Genossen, die der Studentenbewegung ein an historischen Organisationsmodellen der kommunistischen Arbeiterbewegung orientierte Politik anempfehlen wollten. Das Konzept der leninistischen Kaderpartei von Berufsrevolutionären, deren eiserne Disziplin und Unterordnung unter die Direktiven der Zentrale gewährleisten soll, daß die Partei als Avantgarde der Massen auf den Umsturz der Staatsmacht orientiert, hält Krahl für völlig verfehlt. Es verkennt nicht nur den zutiefst antiautoritären Charakter der Studenten- und Lehrlingsbewegung, die sich ja gerade an aufgezwungenen Leistungsnormen, Disziplinierungserfahrungen und bürokratischer Bevormundung entzündet habe. Das Konzept biete auch beste Voraussetzungen dafür, daß der schon in seiner Propagierung zum Vorschein kommende Autoritarismus erneut in eine Reprimierung individueller Bedürfnisse umschlage. Aus einer Identitätsschwachen Unfähigkeit zum dialektischen Denken heraus werde Organisation als ein emanzipativer Prozess der Gegensozialisation schlichtweg stillgestellt. "Der niederträchtige Heidelberger Slogan von der Liquidation der antiautoritären Phase, dem Austrocknen des antiautoritären Sumpfes beinhaltet, wie immer er auch subjektiv gemeint sein mag, in der gegenwärtigen Übergangsphase dogmatische Regression, er sanktioniert ein autoritäres Reaktionssyndrom, ohne zwischen richtigen Bedürfnissen und falschen Motivationen, stabilisierenden und zersetzenden Folgen zu unterscheiden." (Krahl 283)

Krahls scharfe Kritik an subjektiven Voraussetzungen und objektiven Konsequenzen autoritärer Tendenzen im linken Traditionalismus lief auf alles andere als eine Beweihräucherung des organisationsfeindlichen Spontaneismus heraus, dessen problematische und letzten Endes kontraproduktive Begleiterscheinungen im Verlauf der verschiedenen Auseinandersetzungen um 1968 herum fast ebenso offensichtlich wurden wie die Blindstellen des Kadermodells. Krahl kommt das große Verdienst zu, in einer sehr frühen Phase der Bewegung und fast simultan zur politischen Praxis derlei Schwierigkeiten bedacht zu haben. Was heißt spontaneistische Organisationsfeindlichkeit? In der historischen Arbeiterbewegung Europas rivalisierte eine sozialdemokratische Fetischisierung politischer Organisation bisweilen mit einem anarchosyndikalistischen Spontaneismus, der -- idealtypisch manifestiert im Mythos des Generalstreiks -- an die Selbsttätigkeit der in freien, antistaatlichen Assoziationen kommunizierenden Arbeitermassen glaubte. (Erhard Lucas ist dieser Rivalität in seinem großartigen Vergleich unterschiedlicher Formen des Arbeiterradikalismus in Remscheid und Hamborn auf den Grund gegangen.) Vom suggestiven Maximalismus derartiger sozialer Bewegungen fühlten sich auch viele antiautoritär eingestellte Studenten angezogen. Die prominentesten Beispiel in der BRD waren sicher Subversive Aktion und Kommune 1, die daran glaubten, organisiertes Spießertum durch provokative, chaotische und schockierende, in jedem Fall aber ungeplante und spontane Aktionen demaskieren zu können. Gerade in der Auseinandersetzung mit der Rigidität des Traditionalismus erkannte Krahl im dogmatischen Antiautoritarismus Vorboten dessen, was uns heute als negative Anarchie bekannt ist: Verweigerung begrifflicher und theoretischer Anstrengung, schlechte Verallgemeinerung politischer Augenblickserfahrungen, Verdrängung von Kontinuitäts- und Verbindlichkeitserfordernissen, emanzipatorisch verbrämte Egoismen und nicht zuletzt emotionale Gleichgültigkeit anderen gegenüber. "Gewissermaßen gab Krahl Adorno und Habermas nachträglich recht, wenn er mit Argumenten, die sich auch bei ihnen finden ließen, Aktionismus und verselbständigten Antiautoritarismus in der Entwicklung der Protestbewegung kritisierte. Der Charakter einer kleinbürgerlichen Intellektuellenbewegung musste die emanzipative Vernunft zerstören und zum asozialen Kampf aller gegen alle ohne langfristige Klassensolidarität führen; ohne Orientierung im Rahmen einer proletarischen Organisation konnte sich Emanzipation in die Begriffswelt von Randgruppentätigkeit und allgemeiner Gattungsrevolution versteigen und Identität sich immer nur in neuen spektakulären Aktionen bilden."

So sehr diese Einschätzung von Alex Demirovic auch zutreffen mag -- fest steht, daß Krahl sich im Gegensatz zu Adorno und Habermas nicht mit dieser Einsicht begnügte, sondern an der Orientierung auf eine praktische Lösung festhielt. Parallel zu seinem unmittelbaren politischen Engagement und zugleich als dessen integraler Bestandteil machte sich Krahl in diesem Sinne mehr und mehr Gedanken über eine Ideologiekritik des antiautoritären Bewusstseins. Diese Ideologiekritik und die in ihr implizit angedeuteten Konsequenzen für ein Modell antiautoritärer politischer Disziplin möchte ich nun vorstellen, um den Überblick über Hans-Jürgen Krahls Praxis politischer Intellektualität abzuschließen.

Schon in den zwanziger Jahren hatte Georg Lukács eine bis auf den heutigen Tag mehr schlecht als recht beantwortete Frage gestellt: "Wie kann das Reich der Freiheit in einer kommunistischen und durchaus autoritären Organisationsform antizipiert werden?" Mit anderen Worten: wie kann verhindert werden, daß in der aus historischen Zwängen abgeleiteten Organisationsform Mechanismen und Funktionsweisen ausgebildet werden, die das Ziel ebenso in Frage stellen wie die Motivation der in ihr tätigen Menschen. Bebildern läßt sich diese Schwierigkeit mit Erfahrungen aus den unterschiedlichsten Bereichen des privaten und politischen Lebens. Es betrifft die linksradikale Sekte nicht weniger als die Gewerkschaften, den Jugend- und Auszubildendenvertreter nicht weniger als die Astafrau, die sozialistische Partei ebenso wie die politische WG, Kommune oder Genossenschaft. In all diesen Organisationsformen tritt das in all seiner Banalität mehr als hartnäckige Problem von Weg und Ziel, Anspruch und Wirklichkeit, Konsequenz und Inkonsequenz zutage. Auch wenn er seine Antwort nicht mehr hat präzisieren und ausformulieren können, kam Hans-Jürgen Krahl in der Studentenbewegung immerhin das Verdienst zu, sich zumindest gewissenhaft um eine Antwort bemüht zu haben. Immerhin war offenkundig, daß sich die politische Moral des Revolutionärs nach den zahlreichen bitteren Erfahrungen aus revolutionären Bewegungen nicht mehr so einfach verordnen ließ wie Lenin und offenbar auch Marx geglaubt hatten, der es sich nicht nehmen ließ, genüsslich den anarchistischen Traum vom neuen Jerusalem bereits in der Organisation zu verspotten. Die Ansprüche und Freiheitssehnsüchte des Individuums, welches seine Lage und mit ihr die ganze Gesellschaft verändern möchte, sind schließlich nicht nur legitim. Wer aus antiautoritären Motiven das soldatische Prinzip, den Leistungsdruck, die Fremdbestimmung und die Unterdrückung des Lustprinzips verabscheut und haßt, dem ist nicht mit dem Hinweis gedient, dass es dazu in der Organisation der Gegenmacht keine Alternative gibt bzw. die einzige Alternative zur autoritären Gegenmachtorganisation die ist, weiter in der bestehenden Gesellschaft unter Leistungsdruck, Zeitregime und Anpassungszwängen zu leiden. Es irren wahrscheinlich auch all diejenigen, die sich von autoritärer Unterordnung vergrößerte politische Schlagkraft versprechen. Welchen Wert hat eine öffentlich vertretene politische Position, die ein Parteimitglied nur aus willkürlich definierter Organisationsdisziplin, nicht aber aus innerer Überzeugung vertritt. Wird dieses Parteimitglied nicht entmündigt und der Unglaubwürdigkeit preisgegeben? In diesem Sinne hat auch Krahl gedacht: "Die Fortschritte, die in der aufgeklärten Spontaneität der schon selbsttätigen Gruppen und der Aktivierung der bislang unbewegten Gruppen erzielt werden, sind höher zu bewerten als die Erleichterungen und Rechte, die von den Regierenden eventuell gewährt werden." Dieses gesellschaftsgeschichtlich angesichts des ungeheuer vergrößerten Widerspruchs von faktischer Fremdbestimmung und potentieller Selbstbestimmung mehr denn je berechtigte Selbsttätigkeits-Pathos musste nach Krahls Einsicht allerdings rückgebunden bleiben an ein politisches Realtitätsprinzip, "das zu einer disziplinierenden Selbsteinschränkung der antiautoritären Emanzipationsansprüche an die Organisation führen muß nach Maßgabe der praktischen Moralitätserfordernisse des politischen Kampfes und der theoretischen Leistungskriterien einer langfristigen Strategiediskussion." Kurz vor Krahls plötzlichem Tod ist die Offenheit des Widerspruchs von Krahl und einigen Genossen wohl am deutlichsten formuliert worden: "Solange die Vermittlung von individueller und politischer Befreiung nicht antizipierbar ist, hat die Linke darauf kritisch zu reflektieren, daß sie temporär ihre Mitglieder Zwängen aussetzen muß, die theoretisch schwer abzuleiten, aber stets politisch zu begründen sind. Sie reproduziert allgemeine gesellschaftliche Gewaltstrukturen, die erneut die Emanzipation des Subjekts korrumpieren." Eine Überwindung dieser Hartnäckigkeit setzt möglicherweise das Bewusstsein der einstweiligen Hartnäckigkeit des Widerspruchs zwischen Realitäts- und Lustprinzip voraus. Schließlich ist dieses Bewusstsein auch Teil des widersprüchlichen Alltagsverstandes, der unter Umständen bereit sein könnte, sich mit der antiautoritäre Kraft der Selbstreflexion eher zu identifizieren als mit den autoritären Illusionen von Allwissenheit, Selbstgerechtigkeit und falscher Unmittelbarkeit. Oh yeah!