Krahl-Briefe > Wahlverwandschaften

Anmerkungen zu Goethes Wahlverwandtschaften

Exerpte und Kommentare von Hans-Jürgen-Krahl

nach der Handschrift (im Verlag Neue Kritik)

Editorische Vorbemerkung der Redaktion: Diese Art von Exerpten gehören die meisten von Krahl hinterlassenen und bis heute unveröffentlichten Texte an. Die genaueren Umstände von Krahls der Arbeit zu Goethe sind zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unbekannt, vermutlich wurde sie m Rahmen des Studium unternommen. Gemeinsam mit anderen Texten mit ähnlichem Hintergrund sind diese drei Seiten in einer Mappe zusammengefasst.


Transkription

Anm[erkungen zu Goethes] Wahlverwandtschaften

[Kap III]
S. 22: So wie die Menschen sich zur Natur verhalten, so verhalten sie sich auch untereinander. Das ist eine zentrale Einsicht für das Denken Goethes ebenso wie für das Marxens. Die kultivierte Natur, die in maßvoller aber vernünftig geplanter Weise angeeignete soll nur deren inhärentes Wesen in Erscheinung bringen, als wenn man nur einzeln, nach zufälligen Eindrücken, an der Natur herum verrücke. (S. 22) Die Menschen erscheinen als Gärtner, ausgestattet mit der hohen affektkultivierten Kunst im zivilisierten Umgang miteinander sich zu beherrschen, Auseinandersetzungen argumentativ und rational auszutragen. Kultur ist Inbegriff dieser hohen Kunst der Rationalität. Marx betrachtet das Verhältnis der Menschen zur Natur nicht primär unter dem idealistischen Aspekt der Kultur, sondern unter dem der materialistischen, der geschichtlichen Produktionsweise, die wieder das Verhältnis bedingt, welches die Gesellschaftsmitglieder untereinander eingehen. Die Produktionsverhältnisse.

Das Maß (in der steten Entwicklung) ist verhaltenes Leiden (Ottilie) (S. 24/25)

Kap. IV
Zu Grunde liegt die rationalistische Überzeugung: Der menschl. Verstand und die Natur entsprechen einander (Vernunft); die Natur sei apriori more geometrico organisiert (Die trigonometrischen Messungen des Autors). Das Allgemeine der Geometrie sei der Zusammenhang der an sich wesentlich strukturierten einheitlichen Natur. S. 26: Bürgerliche Schizophrenie von Arbeit und Leben, die Entfremdung als Maß der Affektkultur. Arbeit, Geschäft folgt den Regeln diskursiver Konsequenzlogik; das Leben, die freie Zeit ist nun unreglementierte Freiheit. Systematisieren = Arbeit (Büro); Geschäft ist ein geordneter Zettelkasten (Logik). [Ende Seite 1]

Goethe, Wahlverwandtschaften
Drittes Kapitel

Welche Gesellschaftsform drückt sich in den ,Wahlverwandtschaften‘ aus? Klarer wird dies am Verhältnis der Individuen zur Natur, englischer Garten; eine kultivierte, gleichwohl nicht vergewaltigte Natur; Kultur geradezu als Mittel, die Natur zu offenbaren, das Wesen zur Erscheinung zu bringen, die der Natur immanente Idee. Natur hat Symbolstruktur; die kultivierten Menschen sind die Interpreten der Natur (der Mensch als Gärtner). Das harmonische Ideal einer (anmutigen) so geregelten, beherrschten, wie freien Affektkultur soll die Gesellschaft der Menschen bestimmen, die rational und human zugleich auf der Kraft umständlicher Argumentation sich gründet, wo keiner der Natur des Anderen Gewalt antun will.

Das von den Interpreten hineingelegte und herausgeholte Wesen einer gezügelten Affektkultur; die autonomen Individuen, deren Autonomie in der Beschränkung sich zeigt, die sich Grenzen bewusst sind. Utopie und Endlichkeit. (Die Zeitgenossen sprachen von der Darstellung einer untergehenden Zeit.)

Das Verhältnis zur Natur ist entscheidend für die Gesellschaft: „Der Hauptmann gefiel sich sehr in der Gegend und bemerkte jede Schönheit, welche durch die neuen Wege erst sichtbar und genießbar geworden.“ (S. 19/20)

S. 21: „Bequem“ soll der Fußpfad werden: Die Natur ist nicht repressiv, denn die Menschen befreien sie; sie zügeln sich um ihres Wesens willen.

S.21: „Besonders zeichnete zu den Füßen der schauenden Freunde sich eine Masse Pappeln und Platanen zunächst an dem Rand des mittleren Teiches vorteilhaft aus. Sie stand in ihrem besten Wachstum, frisch, gesund, empor und in die Breite strebend.

Eduard lenkte besonders auf diese die Aufmerksamkeit seines Freundes. ,Diese habe ich,‘ rief er aus, ,in meiner Jugend selbst gepflanzt. Es waren junge Stämmchen, die ich rettete, als mein Vater, bei der Anlage zu einem neuen Teil des großen Schlossgartens, sie mitten im Sommer ausroden ließ. Ohne Zweifel werden sie auch dieses Jahr sich durch neue Triebe wieder dankbar hervortun.‘“

Die Pappeln werden zu einem zentralen Symbol des Romans. Sie deuten auf den Zusammenhang zwischen Symbol und Natur. Das Symbol ist nicht bloß formal, als Erscheinung der Idee etwa, zu beschreiben. Die Natur verlangt von sich aus nach ihrer kulturellen Interpretation, welche Ausdruck der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander ist.

Eduard hat Natur gerettet, die ausgerottet werden sollte, und ihnen ihr natürliches Wachstum erhalten. Die Natur nämlich ist von sich aus so vernünftig, wie die an ihr sich orientierenden Menschen. (Naturrecht und Symbol). Es handelt sich nicht einfach um eine ontologische Restitution des Naturrechts; [Ende Seite 3] sondern die Natur erscheint durchaus aufgeklärt als interpretierte Natur. Doch die kulturelle Interpretation der Natur ist keineswegs eine bloße Projektion der gesellschaftlichen Verhältnisse in sie, sondern die Explikation der ihr immanenten Idee; diese aber erscheint in dem Maße, als die Menschen ihr in ihren Beziehungen entsprechen; der Sinn: der Klassik; geschichtsphilosophisch und ästhetisch.

(Was geschieht mit dem Symbol in Bezug auf Geld, bürgerliche Gesellschaft). Die metaphysische Dignität der Natur besteht in ihrer kulturellen Explikation.

Zu dieser Interpretation gehört nicht die die Schönheit herausstreichende Explikation, sondern auch die rationale Konstruktion: „Die Tage waren günstig; die Abende und die frühsten Morgen brachte er mit Aufzeichnen und Schraffieren zu. Schnell war auch alles laviert und illuminiert, und Eduard sah seine Besitzungen auf das deutlichste aus dem Papier wie eine neue Schöpfung hervorwachsen. Er glaubte sie jetzt erst kennenzulernen, sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehören.

Es gab Gelegenheit, über die Gegend, über Anlagen zu sprechen, die man nach einer solchen Übersicht viel besser zustande bringe, als wenn man nur einzeln, nach zufälligen Eindrücken, an der Natur herumversuche.“

Nur der rationalen Vernunft erschließt sich die immanente Notwendigkeit der Natur, nicht dem zufälligen Experiment; nur die Kenntnis des Ganzen.


Quelle: Mappe 12, Literarisches etc., S. 1-4, Verlag Neue Kritik
Transkription: Redaktion Krahl-Briefe