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Kommentar zur Diskussion am 5. Dezember 1967

Auschnitt aus der Diskussion

Das Verhältnis zwischen Hans-Jürgen Krahl und Theodor Adorno ist das Verhältnis zwischen der Theorie und ihrer praktischen Konsequenz. Von einer Theorie, die ihre Wirkungsmacht nicht verstanden hat, ja von ihrer Bedingtheit her nicht verstehen kann, wie dies Krahl selber analysiert hat und ihrer Konsequenz, die notwendigerweise über diese Theorie hinaus geht, sie fundamental kritisiert ohne ihre Herkunft zu verleugnen. Das Verhältnis Krahls zu seinem akademischen Lehrer kann dabei nicht etwa auf den Begriff einer "kafkaesken Vatermordszene" gebracht werden, (1) wie dies heute gerne versucht wird. So konstitutiv das ambivalende Verhältnis Krahls zur kritischen Theorie ist, so wichtig ist es auch für seine Rezeption und seine Wirkung bis in die heutige Zeit. Dass es sich in dem persönlichen Verhältnis Krahls zu Adorno spiegelt ist gewissermaßen folgerichtig, waren es doch die Diskussionen in den Seminaren oder wie hier in einer Vorlesung, an denen sich unter anderem Krahls begriffliche Schärfe und der Widerspruch zu Adorno immer stärker zeigte. Ausgehend von der zunächst vorausgesetzten Bedeutung Adornos für das Wirken und Denken Krahls soll im Kommentar der konkreten Diskussion am 5. Dezember versucht werden, die konkreten Umstände der Diskussion zu erläutern sowie einige der Differenzen zwischen der außerparlamentarischen Opposition, die sich hier insbesondere in Krahls Positionen zeigt mit der Position Adornos an den konkreten Diskussionsbeiträgen zu thematisieren. Hintergrund dafür sind zum einen das Go-In bei Carlo Schmid (2) und Adornos Antworten auf drei Fragen zur Situation an den Hochschulen, die ihm von der F.A.Z. gestellt worden waren. (3)

1. Das Go-In bei Carlo Schmidt

"Wir sollten in einem Nebenraum ein Schnellgericht installieren und Unruhestifter sofort aburteilen lassen." Mit diesen Worten zitierte der Spiegel im November 1967 den Frankfurter Politikprofessor und SPD-Bundesratsminister der Großen Koalition, Carlo Schmid. Die bereits Ende der 1950er Jahre begonnenen Proteste gegen die Notstandsgesetze hatten sich mit den Protesten der außerparlamentarischen Opposition der Studenten nach dem 2. Juni 1967 vereinigt und drohten bei einem öffentlichen Forum, dem "Notstand Hearing", im Dezember zu eskalieren. Schmid und sein Fraktionskollege Karl Mommer wollten dagegen halten und nach den Worten von Mommer zeigen, "dass unsere Demokratie in der Lage ist, für ihr Recht zu kämpfen." (4)

Schmid gehörte zweifellos zu den wichtigsten Politikern der jungen Bundesrepublik. Er war Mitglied des Parlamentarischen Rates und seit 1949 Bundestagsabgeordneter. 1959 unterlag er im zweiten Wahlgang Heinrich Lübke bei der Wahl zum Bundespräsidenten. In der großen Koalition aus SPD und CDU unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger wurde er schließlich 1966 Bundesratsminister. Gerade diese Große Koalition mit ihrer erdrückenden Mehrheit im Bundestag war dann auch, die die Notstandsgesetzgebung letztlich ermöglichte, nachdem die 1958 erstmals diskutierten Gesetze bis dahin keine Mehrheit gefunden hatten. Gegen die Pläne der Großen Koalition protestierten vor allem Studenten, Intellektuelle wie Ernst Bloch oder Jürgen Habermas und die Gewerkschaften insbesondere unter Führung des IG Metall-Vorsitzenden Otto Brenner. Der SDS schloss sich den Protesten an und übernahm in der heißen Phase vor Verabschiedung der Gesetze am 30. Mai 1968 eine wichtige Rolle. (5)

Die Worte von Carlo Schmid im Spiegel mussten den Protestierenden neue Nahrung geben und insbesondere die Frankfurter Studenten mobilisieren. denn neben seiner Tätigkeit als Bundesminister lehrte Schmid immer noch in Frankfurt Politikwissenschaft. Im Aufruf zum Go-In schrieb der SDS über Schmid: "Als Professor der Politik doziert er den Studenten Demokratie, als Minister der Großen Koalition praktiziert er den Notstand der Demokratie." Auf diesen Widerspruch sollte mit dem Go-In in die Vorlesung Schmids aufmerksam gemacht werden, die Studenten wollten den Professor zur Rede stellen.

Schmid hingegen wollte sich von dem Protest nicht einschüchtern lassen. Während Uni-Rektor Walter Rüegg und andere ihn baten, die Vorlesung ausfallen zu lassen, wollte er reden. Schließlich verkörpere er als Professor die Autorität des Staates, die nicht durch Drohungen zurückweichen dürfe, so Schmid später in seinen Erinnerungen. Er wich nicht zurück, diskutierte nicht und setzte so seine Autorität durch, auch wenn in der Vorlesung am 20. November 1967 nur die wenigsten verstanden haben dürften, was er über Außenpolitik dozierte. Denn der SDS hatte nach einer Viertelstunde über einen Hintereingang den Hörsaal gestürmt, sich auf dem Podium platziert und lautstark die im Flugblatt angekündigte Diskussion mit dem Minister gefordert. "Wir wollen keine Vorlesung vom Notstandsminister hören", wurde auf die Wandtafel geschrieben. Im überfüllten Saal gab es zwar einige Zustimmung zur Aktion der Studenten, andere jedoch riefen "SDS raus" oder gar "SDS ins KZ!". Die Konfrontation der Antiautoritären mit dem autoritären Vertreter des Staates, der noch Jahre später genau diese seine Funktion perfekt als solche reflektierte, als er schrieb "die Autorität weicht nicht zurück", war ein mustergültiges Beispiel für die Zeit der Revolte, zeigte die Bedeutung solcher Aktionen, die die "Spielregeln" überschritten, war aber auch ein Hinweis darauf, dass der SDS zwar eine große Basis hatte, bei weitem aber nicht die Mehrheit der Studenten repräsentierte. (6)

Der SDS hatte mit der Aktion zumindest eines erreicht. Mit dem Go-In war eine neue Stufe des Protestes beschritten, es gab fast nur noch zwei Alternativen für Studenten und Professoren. Entweder unterstützten sie den Protest oder aber sie stellten sich auf die Seite der Universität, die ihrerseits scharfes Geschütz auffuhr.

2. Der Faschismus-Vorwurf

Die Universität reagierte mit scharfen Worten auf die Ankündigung des Go-Ins. Rektor Rüegg warnte vor dem Hausfriedensbruch, den diese Aktion bedeuten würde. In einer Presseerklärung bezeichnete er sie als "Einübung faschistischer Terrormethoden", was die Stimmung besonders aufheizte, da dies in Verbindung mit Schmids Worten über die Aburteilung von Störenfrieden sowie die Notstandsgesetzgebung ein deutliches Zeichen für eine Faschisierung der Gesellschaft war. Dies machte der SDS in einem offenen Brief an Rüegg deutlich darstellte und setzte seine Analyse dagegen: "Faschismus bedarf zur Zeit nicht der antiparlamentarischen Massenbewegung, sondern wird institutionell im Zentrum des parlamentarischen Systems selbst vorbereitet. Die liberalen Prinzipien von Freiheit, Humanität und Toleranz, einstmals als Garantie der Volkssouveränität und als Schutz für Minderheiten konzipiert, werden ersetzt und in ihr Gegenteil verkehrt: sie dienen den Herrschenden als Mittel der Manipulation, die Massen den Herrschaftsinteressen gefügig zu machen und die politisch aktiven Minderheiten zu unterdrücken." (7) Dass dies auch die Position Krahls war, zeigen seine Worte in der Diskussion mit Adorno. Nicht nur der SDS, sondern auch der akademische Mittelbau protestierte in der Folge gegen die Angriffe von Rektor Rüegg auf die protestierenden Studenten. In einem Flugblatt "Zum richtigen Gebrauch der Begriffe" stellten sie klar: "Faschistische Methoden zielen darauf ab, Minderheiten in Angst zu versetzen und schließlich physisch zu vernichten, um bei der Mehrheit die Bereitschaft zu blinder Akklamation zu erzeugen. Die Methoden des SDS dagegen, die im Detail durchaus kritisch diskutiert werden sollen, wollen eine rationale Diskussion überhaupt erst in Gang bringen und die Träger von Herrschaft dazu herausfordern, sich zu legitimieren oder mangels Legitimation auf ihre Privilegien zu verzichten. Angst können diese Methoden nur bei jenen erzeugen, die als Inhaber von Herrschaftspositionen weder in der Lage noch willens sind, ihre Position und ihr Handeln zu legitimieren." (8)

Hier wird die Argumentation von Rüegg umgekehrt und in ihrer Bedeutung als Unterstützung der Autorität und letztlich der Notstandsgesetzgebung vor Augen geführt. "Ein Gespenst geht um in Deutschland -- das Gespenst des Linksfaschismus. Gegen die unreflektierte Verwendung derartiger Begriffe, gegen die Diffamierung unbequemer Minderheiten protestieren wir mit aller Entschiedenheit. Ein ehemaliger Bundeskanzler spricht ungeniert in nationalsozialistischem Jargon von ,Entartung'; seine Magnifizenz von faschistischem Terror dort, wo kritische Studenten ihre Lehrer zu rationaler Diskussion provozieren." (9)

Wie in der Aktion zeigte sich also auch in der theoretischen Auseinandersetzung, dass die Fronten zwischen Autorität und Protest klar sichtbar wurden. Die Diskussion um den Faschismus-Begriff hatte dabei schon eine längere Vorgeschichte. So hatte Jürgen Habermas bereits kurz nach dem 2. Juni 1967 gegen Rudi Dutschkes den Begriff des "linken Faschismus" geprägt, mit dem er Dutschkes Begründung für bewusste Verletzungen der Spielregeln belegte. Im 19. Jahrhundert wäre dessen voluntaristische Ideologie utopischer Sozialismus worden, heute aber müsse man sie "linken Faschismus" nennen. (10) Dieser Vorwurf blieb und zeigte die tiefe Kluft zwischen den bürgerlichen Intellektuellen und den Studenten, die auch in der Folge immer wieder deutlich wurde. Dass der Begriff von Seiten der Autorität gerne aufgegriffen wurde, zeigt die Verwendung durch Rektor Rüegg.Denn Faschismus-Vorwurf war nun in der Welt und wurde immer wieder gerne zur Verleumdung der Aktionen der außerparlamentarischen Bewegung hervorgeholt. Dutschke schrieb bereits kurz nach Habermas' Vorwurf zur Antwort in sein Tagebuch: "Habermas will nicht begreifen, dass allein sorgfältige Aktionen Tote, sowohl für die Gegenwart als auch noch mehr für die Zukunft ,vermeiden' können. Organisierte Gegengewalt unsererseits ist der größte Schutz, nicht ,organisierte Abwiegelei' à la Habermas. Der Vorwurf der ,voluntaristischen Ideologie' ehrt mich." (11)

An anderer Stelle setzte sich Krahl mit Habermas auseinander, der 1968 nun die neuen Demonstrationstechniken feiere. Die Phase des Protestes aber sei vorbei, antwortete Krahl Habermas auf einem Teach-In im Juni 1968 in Frankfurt. Dabei den Kernkonflikt zwischen dem SDS und Habermas als bürgerlich-liberalen Intellektuellen erklärte er wie folgt: "Der schwerwiegende Vorwurf, den Habermas gegen den SDS erhebt, besagt, dieser verwechsle den symbolischen Protest mit dem faktischen Machtkampf, erklärbar nur aus einer infantilen Pathologie, die ,im klinischen Bereich den Tatbestand der Wahnvorstellung erfülle'. Blind gegen jede geschichtliche Erfahrung begeht Habermas ein entscheidendes analytisches quid pro quo. Nicht der SDS verwechselt Wunsch und Wirklichkeit, sondern der Staat hat erwiesenermaßen auf den Protest unbewaffneter Gruppen mit dem Einsatz seiner Gewaltmaschine geantwortet, als handle es sich um den faktischen Kampf um die Macht im Staat. Die Pathologie des Staates zwingt diesen, einen vorbeugenden Machtkampf zu führen, Individuen, Gruppen und Klassen an der autonomen Wahrnehmung ihrer Interessen zu hindern und die Ansätze zur Organisierung der Opposition außerhalb der bestehenden Institutionen zu zerschlagen. Der Staat und seine Versuche, die Gesellschaft zu kasernieren, zwingen die außerparlamentarische Opposition in den Widerstand" (KuK 2008, 249).

Den Staat beschreibt Krahl dabei gemeinsam mit Dutschke unter Berufung insbesondere auf Max Horkheimer als gesellschaftlichen Gesamtkapitalisten im integralen Etatismus, in dem der Staat unter Beibehaltung des Privateigentums der Produktionsmittel "die Gesetze der kapitalistischen Konkurrenz ausschaltet und den ehemals naturwüchsigen Ausgleich der Profitrate durch eine staatlich-gesellschaftlich orientierte Verteilung der gesamtgesellschaftlichen Mehrwertmasse herstellt". Im gemeinsam von beiden erarbeiteten Organisationsreferat vom September 1967 heißt es weiter: "In dem Maße, in dem durch eine Symbiose staatlicher und industrieller Bürokratien der Staat zum gesellschaftlichen Gesamtkapitalisten wird, schließt sich die Gesellschaft zur staatlichen Gesamtkaserne zusammen, expandiert die betriebliche Arbeitsteilung tendenziell zu einer gesamtgesellschaftlichen. Der Integrale Etatismus ist die Vollendung des Monopolkapitalismus." (12) Die Große Koalition und ihre konzertierte Aktion war der politische Ausdruck davon, der aus Sicht der APO Protest hervorrufen musste. Die Spielregeln dieses Staates mussten quasi notwendigerweise verletzt werden, eine andere Möglichkeit hätte aus Sicht von Krahl und Dutschke wieder zur Integration geführt.

Diese Analyse sowie die Antworten Adornos auf drei von der F.A.Z. Zur Situation an den Hochschulen vorgelegte Fragen bot nun gemeinsam mit der konkreten Aktion gegen die Vorlesung von "Notstandsminister" Schmid Krahls Hintergrund für die Diskussion mit Adorno, die von den Studenten nicht nur von ihm gefordert worden war.

3. "Trennung von Wissenschaft und Politik durchbrechen"

Die Frankfurter Allgemeine befragte die Professoren zur Unzufriedenheit der Studenten, zur These des SDS, die Universität gestatte nur noch Spezialistenausbildung und schließlich zur Demokratisierung der Hochschulen. Adorno stellte in seiner Antwort klar, dass in seinen Augen nicht die Mehrheit der Studenten unzufrieden sei, sondern eine artikulierte Minderheit, die die "vorwaltende Apathie" durchbrechen wolle. Zudem sah er eine Entpolitisierung der Universität, die in der Tat zur Spezialistenausbilderin verkommen könne, was allerdings gesamtgesellschaftlich verankert sei. Bei der Frage der Demokratisierung indes bezog er sich nur auf eine Formulierung, den zweiten Teil einer geteilten dritten Frage und führte seine Position nicht weiter aus. (13) Dies wurde nun zunächst Thema der Diskussion in der Vorlesung. Vor dem Hintergrund der zu dieser Zeit gerade diskutierten Hochschulreform äußerte sich Adorno zu Mitbestimmung bei Besetzungs- und Prüfungsfragen. Er richtete sich zwar gegen Honoratiorenuniversität, Ausgangspunkt war aber immer seine Stellung als Professor. Er will sich nicht den Studenten unterwerfen und pocht auf seine Lehrfreiheit. Aufällig ist, dass diese Diskussion zunächst einen rein immanenten Charakter hat, die Institution voraussetzt, die zu demokratisieren seien.

Eine radikale Kritik an der Institution, wie sie vom SDS angebracht worden war und wie sie zumindest durch die Fragen der F.A.Z. durchscheint, kommt erst mit Hans-Jürgen Krahls Intervention ins Spiel. Er bezieht sich auf die bereits erwähnte Antwort des SDS auf den Faschismus-Vorwurf des Rektors, in dem die Politisierung der Hochschulen gefordert wird. Seine Beiträge sowie die beiden von Udo Riechmann in der hier abgedruckten Diskussion sind Ausdruck davon. Krahl argumentiert gegen Adornos implizit vertretene Position, mit gutwilligen Professoren, also bürgerlich-liberalen Köpfen, die eine Diskussion ermöglichten, sei es getan. Denn die Liberalität als Grundkonsens der Gesellschaft, auf die diese Position rekurriert, sei längst erstarrt, nur noch eine technische Regel zur Domestizierung der Menschen geworden. An dieser Frage, der Einschätzung der Verhältnisse der Bundesrepublik und deren praktischen Schlussfolgerungen, wird der Dissens zwischen den Diskutanten besonders deutlich.

Zwar gesteht Adorno Krahl zu, dass es eine Formalisierung der Liberalität gibt, er sieht aber gleichwohl eine akademische Freiheit zur Diskussion. Er formuliert vorsichtig, aber wo es um die Verletzung der Spielregeln geht, wird er deutlich: "Ich würde doch sagen, dass im Augenblick, wo man auf Grund jener fraglosen Formalisierungstendenz diese Spielregeln verletzt, anstatt dass man hingeht und die Spielregeln so viel zu verändern sucht, wie es möglich ist, man damit die Gefahr heraufbeschwört einer Umfunktionierung oder vielmehr einer Gegenbewegung, die mir unter Einschätzung der politischen Kräfte und gesellschaftlichen Kräfte, wie sie heute sind, außerordentlich ernst scheint." Adorno fürchtet also eine Faschisierung der Gesellschaft aufgrund der Aktionen der Studenten, da sie, und diese Einschätzung unterscheidet ihn vom Rektor der Universität, in der Gesellschaft angelegt sei. Dass ihm die Konsequenz seiner Argumentation klar ist, zeigt seine kurz darauf folgende Ablehnung des Faschismus-Vorwurfs. Dem Leser der Diskussion wird in der Begründung dieser Ablehnung noch einmal klar, wie sehr Adorno laviert. Er steht als Hochschullehrer auf der Seite der Autorität, deren Argumentation er nicht zustimmen will. Auf der anderen Seite ist in der Analyse der Studenten ist seine eigene kritische Theorie enthalten, sie wird jedoch in ihrer praktischen Konsequenz vorangetrieben und auch das kann er nicht gutheißen. Adorno wirkt wie zerrieben zwischen den Fronten, seine Ablehnung der Praxis der Studenten und seine Grundsympathie mit ihren politischen Positionen passen da nicht zusammen, wo diese bereits manifest geworden sind und sich konkreten Ausdruck verschafft hatten. Adorno pocht darauf, dass theoretisch diskutiert wird, das eine Diskussion um der Sache willen sinnvoll sei. Dass die Sache nach dem 2. Juni 1967 konkrete praktische Schritte der APO nach sich ziehen musste, will und kann er nicht sehen, sondern er plädiert vielmehr in seiner Antwort auf den zweiten Beitrag für einen Kampf gegen den Rechtsradikalismus und nicht den Kampf gegen den Staat.

In diesem zweiten Beitrag hebt Krahl den Dissenz mit Adorno noch einmal deutlich hervor, wenn er auf die notwendige politische Wirksamkeit von Diskussionen pocht. Im parlamentarischen System werde die Demokratie abgebaut und die Menschen manipuliert. Der Faschismus drohe nicht von außen, durch die Rechtsradikalen, sondern von innen durch die Institutionen. Deren Reform hält er für kaum möglich, weswegen es sinnvoll sei, auf die Verletzung der Spielregeln zu setzen. Ausgehend von der Analyse der Struktur des Integralen Etatismus hatten Krahl und Dutschke schon im Organisationsreferat festgestellt, dass die manipulierten Massen nicht mehr aus sich selbst heraus zur Empörung fähig sind, ihre Interessen, Bedürfnisse, Wünsche nicht mehr selbst organisieren können, da sie "die soziale Wirklichkeit nur noch durch die von ihnen verinnerlichten Schemata des Herrschaftssystems selbst" erfassten. Dagegen helfe von Seiten derer, die aufgrund ihrer spezifischen Stellung im "Institionswesen" sich der Situation bewusst werden können, nur die sichtbare irreguläre Aktion, damit "die abstrakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewissheit werden kann." (14)

Für diese Form der Aktion war das Go-In bei Carlo Schmid das beste Beispiel und es bildet den Hintergrund sowohl der Argumentation von Krahl wie auch Adornos, die beide nicht näher darauf eingehen. Adorno wehrt sich in der Folge von Krahls Forderung einer politischen Wirksamkeit der Diskussion mit der Hypostase des Gedankens, der nur dann praktisch wirken könne, wenn er sich nicht von der anschließenden Praxis gängeln lasse. Dass er dabei die Bedingung seiner Entstehung, die Bedingheit des Gedankens selber außer acht lässt, zeigt hier erneut sein Verhältnis zur Praxis, das dann in späteren Auseinandersetzungen mit der APO deutlicher zu Tage tritt.

Als eine Art Zusammenfassung seiner Auseinandersetzung mit der APO kann das Interview des Spiegels aus dem Jahr 1969 gelesen werden, das nach den Aktionen des SDS wie der Rektorats- oder Institutsbesetzung des Jahres 1968 sowie den Provokationen in Adornos eigenen Vorlesungen entstand: "Ich habe in meinen Schriften niemals ein Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgendwelchen Aktionen gegeben. Ich bin ein theoretischer Mensch, der das theoretische Denken als außerordentlich nah an seinen künstlerischen Intentionen empfingen. Ich habe mich nicht erst neuerdings von der Praxis abgewand. Mein Denken stand seit jeher in einem sehr indirekten Verhältnis zur Praxis." Bestimmte Gruppen hätten ihn immer wieder zur Solidarität gezwungen, er habe sich verweigert. Gleichzeitig verteidigt er seine Ablehnung der Praxis: "Auf die Frage ,Was soll man tun' kann ich wirklich meist nur antworten ,Ich weiß es nicht'. Ich kann nur versuchen, rücksichtslos zu analysieren, was ist. Dabei wird mir vorgeworfen: Wenn du schon Kritik übst, dann bist du auch verpflichtet zu sagen, wie man's besser machen soll. Und das allerdings halte ich für ein bürgerliches Vorurteil. Es hat sich unzählige Male in der Geschichte ereignet, dass gerade Werke, die rein theoretische Absichten verfolgen, das Bewusstsein und damit auch die gesellschaftliche Realität verändert haben." (15)

Krahl analysierte die Ablehnung der Praxis durch Adorno in seinem Nachruf in Bezug auf organisatorische Kategorien, in denen sich das kritische Denken ausdrücken müsse. "Immer weiter entfernte sich Adornos dialektischer Begriff der Negation von der historischen Notwendigkeit einer objektiven Parteilichkeit des Denkens, die in Horkheimers spezfischer Differenzbestimmung der kritischen zur traditionellen Theorie zumindest in der Programmatik von der ,dynamischen Einheit' des Theoretikers mit der beherrschten Kasse enthalten war. Die Abstraktion von diesen Kritierien hat Adorno schließlich im Konflikt mit der studentischen Protestbewegung in eine fatale und von ihm selbst kaum durchschaubare Komplizität mit den herrschenden Gewalten getrieben. Die Kontroverse bezog sich keineswegs allein auf das Problem privater Praxisabstinenz, sondern das Unvermögen zur Organisationsfrage verweist auf eine objektive Unzulänglichkeit der Theorie Adornos, die dennoch gesellschaftliche Praxis als erkenntniskritisch und gesellschaftstheoretisch zentrale Kategorie unterstellt." (KuK 2008, 292) Krahl würdigte die Bedeutung der kritischen Theorie Adornos für die politisch bewussten Studenten, denn sie habe die emanzipative Dimension der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie wieder zu Tage gefördert, was zu einer Zeit des dogmatischen Sowjetmarxismus zweifellos eine wichtige Aufgabe war. Adorno konnte indes nicht über die radikalisierte Bürgerlichkeit im Denken hinaus gehen und "blieb an sie mit furchtsamen Blick auf die schreckliche Vergangenheit fixiert: das immer zu spät kommende Bewusstsein dessen der erst in der Dämmerung zu begreifen anfängt." (KuK 2008, 293). Der kritischen Theorie fehlt laut Krahl die Klassenanalyse, sie interpretiert, wie Thomas Gehring das unter Rückgriff auf Krahl griffig ausdrückt, "die kapitalistische Produktionsweise als Ökonomie des Tauschs. Sie verbleibt so im Horizont der einfachen Warenproduktion und kann zu keiner Klassentheorie kommen." (16) Nicht die Analyse der Gegenwart sondern die konkrete Erfahrung des Faschismus sei letztlich konstitutiv für die kritische Theorie, was ihr suggeriert zu haben scheine, so Krahl, "dass kollektive Praxis notwendig bewusstseinsdestruktiv ist, dass sich in kollektiver Praxis geradezu die Klasse zur Masse zersetzt [...]. Zwar geht die Zerfallsgeschichte des bürgerlichen Individuums in die Reflexion ein, aber nicht die Umstrukturierung und der Strukturwandel, den der Begriff der lohnabhängigen Klasse auch seinem Dasein nach insgesamt erfahren hat. Zwar wird auf kulturkritischer Ebene in abstracto festgestellt, dass Ideologie geradezu heute eine Produktivkraft geworden ist, aber die konkrete Reflexion auf Wissenschaft als Produktivkraft, auf die Veränderung des Verhältnisses von geistiger und körperlicher Arbeit, etwa im Rahmen der lohnabhängigen Klasse, wird nicht mitgemacht" (KuK 2008, 300f.). Der individuelle Klassenverrat reiche nicht mehr aus, "ohne eine Organisation der wissenschaftlichen Intelligenz, des Heers der Industriearbeiter und produktiven Angestellten, ohne eine gemeinsame Organisation wird sicherlich nicht die Totalität des Klassenbewusstseins wiederzugewinnen sein." (KuK 2008, 302).

Während also für Adorno letztlich die Frage nach der Organisation gar nicht stellt, steht sie im Mittelpunkt aller theoretischen Bemühungen Krahls. Dass es auf dieser Ebene zu einem Bruch zwischen beiden kommen musste, ist vor diesem Hintergrund klar. Es zeigt sich, dass die Differenzen schon in der Phase der außerparlamentarischen Opposition der Studenten, in die die kommentierte Diskussion gehört, nicht nur angelegt, sondern bereits so weit ausdifferenziert waren, dass der spätere offene Bruch und die Konfrontation Krahls mit Adorno vor Gericht unausweichlich war. (17)

Helge Buttkereit

Endnoten

  1. Mit diesen Worten versucht beispielsweise Gerd Koenen, Der transzendentale Obdachlose, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft 11/3 (2008) Krahl und seine konkrete Praxis zu verleumden.
  2. Nach Angaben von Wolfgang Kraushaar wurde das Go-In bereits eine Woche vorher diskutiert, woran aufgrund der falschen Zuordnung der vorliegenden Diskussion berechtigte Zweifel bestehen (siehe auch die editorische Vorbemerkung zur Diskussion in dieser Ausgabe).
  3. Vgl. Theodor W. Adorno, "Wohin steuern unsere Universitäten?" Antworten auf drei Fragen der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", 30. November 1967. Neben Adorno, der in seiner Ästhetik-Vorlesung Stellung nahm, diskutierten auch die anderen befragten Professoren.
  4. Zitate aus Der Spiegel 48/1967, S. 28f.
  5. So sprach Hans-Jürgen Krahl auf einer großen Kundgebung von Studenten, Arbeitern und anderen Notstandsgegenern am 29. Mai 1968, dem Tag vor der Verabschiedung der Gesetze auf dem Rüberberg (KuK 2008, 152ff.).
  6. Die Darstellung der Ereignisse beruht auf den Dokumenten, die in Wolfgang Kraushaar, Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail, Band 2, S. 312ff. abgedruckt und ebenda Bd. 1, S. 279ff. beschrieben ist.
  7. Ebenda S. 321.
  8. Ebenda S. 322.
  9. Ebenda S. 323.
  10. Dutschkes Beitrag und Habermas' Antwort darauf sind abgedruckt in: Bedingungen und Organisation des Widerstandes -- Der Kongreß in Hannover, West-Berlin 1967.
  11. Rudi Dutschke, Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979, Köln 2003, S. 45.
  12. Unter anderem abgedruckt in Rudi Dutschke, Geschichte ist machbar, Berlin 1980 S. 89-95, hier S. 91.
  13. Adorno, Wohin steuern unsere Universitäten, a.a.O.
  14. Zitate aus dem Organisationsreferat, a.a.O., S. 94
  15. Zitate aus Keine Angst vor dem Elfenbeinturm. Spiegel-Gespräch mit dem Frankfurter Sozialphilosophen Professor Theodor W. Adorno, in: Der Spiegel 19/1969.
  16. Thomas Gehring, Der Freiburger Materialismus. Der Freiburger Materialismus. Eine Auseinandersetzung mit der Kritik der IsF am Arbeiterbewegungs-Marxismus, auf: http://www.links-netz.de/K_texte/K_gehrig_materialismus.html.
  17. Während die Aktionen gegen Carlo Schmid trotz Anzeige durch die Universität nicht weiter strafrechtlich verfolgt wurden, kam es zur Anklage gegen Krahl und andere, die am 7. Januar 1969 das Institut für Sozialforschung besetzt hatten, das auf Anzeige von Adorno von der Polizei geräumt wurde. Der Prozess um die Besetzung markiert das letzte Zusammentreffen Krahls mit Adorno, der drei Wochen nach dem Gerichtstermin starb.